Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
40 - Sprachebenen
Jahrhundertelang war die Sprache im Gedicht eine etwas eigene. Pathos war erlaubt, extravagante Sprachbilder kein Problem und selbst kleinere „Korrekturen“ der Grammatik oder seltsame Satzbauten völlig in Ordnung. Alltagssprache fand erst relativ spät ihren Eingang ins Gedicht. Heutzutage geht alles, nur: es muss zusammenpassen.
In diesem Kapitel möchte ich dich ein bisschen sensibilisieren, wie man auf Vornehmdeutsch sagt, für das Einhalten einer Sprachebene. Dazu habe ich einige Beispiele konstruiert, die „lebende Vorbilder“ hatten, in denen die Sprachebene nicht immer gehalten wurde. Ein einfaches Beispiel zum Warmwerden: Welches Wort passt nicht zu den anderen?
Entfliehen tut mir
So lieblicher Gesang
Der entfliehende Gesang klingt sicher wie eine poetische Formulierung, aber „tut“ ist ein grausamer Absturz in umgangssprachliche Konstruktionen. Was wäre besser gewesen? Darüber könntest du bei jedem Beispiel ein wenig nachdenken. Beim nächsten Gedicht gibt es sogar zwei Kandidaten für den Sprachebenenwechsel. Welchen würdest du versuchen zu verbessern?
Auch wenn du nichts mehr fühlst,
so hoffe ich doch leise,
dass du im stillen Lande
so was wie Frieden spürst.
Der erste Kandidat ist „Lande“. Diese Form wird wenig gebraucht, wobei sie seltsamerweise einerseits zum gehobenen Sprachgebrauch gehört – z.B. jemand zählt zu den Stillen im Lande –, aber auch umgangssprachlich noch ab und an verwendet wird: Na, auch wieder im Lande? Von daher würde ich das Wort durchaus noch als passend im Kontext des Gedichts sehen.
Was nicht passt, ist „so was“. Das ist eindeutig Umgangssprache und pikt ziemlich nach unten heraus aus dem bedächtigen Tonfall des Textes. Da muss es eine anschmiegsamere Lösung geben.
Das folgende Gedicht hat wieder zwei kritische Stellen (meiner Meinung nach, vielleicht gibt es mehr), es enthält einen Ausrutscher, der sich unbemerkt einschummeln kann. Nur wenn man drauf achtet, dann ...
Es summt im Grünen überall,
ein Schweben geht durch diese Welt.
ich höre süßen Vogelschall,
dies ist ein Ort, der mir gefällt.
Doch dann, ich kann es einfach nicht fassen,
ein Blick will mich erstarren lassen.
Den „Vogelschall“ empfinde ich als ein bisschen altbacken. Vielleicht ist es Geschmackssache, aber ich würde dieses Wort nicht verwenden, es sei denn, der Ton soll wirklich an alte Gedichte erinnern. Der Einschummler ist für mich: „einfach“, eine dieser Verstärkungsfloskeln, die in der Umgangssprache immer wieder eingestreut werden. „Irgendwie“ oder das bombastische „voll“ fallen mir noch auf Anhieb ein. Solche Wörter sind meist überflüssig und in Gedichten sollten eigentlich keine überflüssigen Wörter stehen. Zudem passt es hier nicht in den leicht gehobenen Tonfall.
Im nächsten Beispiel ist der Fall etwas anders gelagert. Ich bin aber sicher, du wirst es bemerken:
Das ist ein Tag ganz ohne Sorgen,
ich denke nicht an den nächsten Morgen,
Doch plötzlich merk ich, was für’n Schreck,
die Sonne gehet auf einmal weg.
Das veraltete „gehet“ fällt auch deshalb unangenehm auf, weil die Zeile davor einen ziemlich umgangssprachlichen Charakter hat. Beim Romantiker Heinrich Heine hatten die alten Formen eine Funktion, hier ist es ein Abgleiten der Sprache mit mindestens 200 Jahren Verspätung. Das kann passieren, wenn man viele alte Gedichte liest. Plötzlich wirken Sprachformen normal, die völlig verstaubt sind. Aufmerksames Lesen eines eigenen Gedichts, nachdem du etwas Abstand gewonnen hast, hilft wie so oft.
Das Schlussbeispiel demonstriert ein modernes Problem der Sprachverpanschung:
Ein Tier, wie reimt sich ein Tier?
Ein Tier, es reimt auf Fear im Revier.
Ein Mensch, wie reimt sich ein Mensch?
Ein Mensch, der reimt sich nicht.
Es reimt sich nur das Tier in dir.
Mittlerweile sehe ich das ab und zu auch in Gedichten: Geläufige englische Wörter oder Redewendungen werden eingeflochten. Es mag Fälle geben, wo das sogar sinnvoll sein könnte, doch meist ist es – wie in diesem Beispiel – nur unüberlegtes Einstreuen von Anglizismen. Woher weiß ich, dass in diesem Fall der Gebrauch von „Fear“ nicht wirklich durchdacht war? Nun, es gibt tatsächlich im Deutschen, wie in Zeile vier angesprochen, keinen Reim auf Mensch, doch da in diesem Gedicht auch Englisch als Reim verwendet wird, ist der Mangel aufgehoben: bench, trench, stench und viele mehr. Ich denke, aus stench als Reim auf Mensch könnte man was Schönes machen. Hätte sich das Gedicht auf Deutsch beschränkt, dann wäre der Text aufgegangen.
Wie im Fehler-Kapitel gezeigt, kannst du aus jedem Fehler einen „Fehler“ machen. Das geht auch mit der Vermischung von Sprachebenen. Ein Beispiel wäre das Herunterholen oder Kontrastieren eines sehr gehobenen Tonfalls mittels Umgangssprache oder sogar Dialekt. Als ein Ausprobierfall könnte ein Gedicht dienen, das sich über die Schönheiten des Waldes in vielleicht sogar bewusst veralteter Schreibweise verbreitet, wo dann die Frage nach der nächsten Pommesbude, oder was bei dir in der Ecke üblich ist als Futterstation für das gemeine Volk, in „rauen Worten“ reingehauen wird.