Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

39 - Ein romantisches Gedicht

Waren die Romantiker besonders romantisch im Sinne von Liebelei und so? Das sicher auch, aber eigentlich romantisierten sie, indem sie „dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein“ gaben, wie Novalis das mal beschrieben hat.

Eine Schwäche hatten die Romantiker fürs Volk: Volkslieder, Volksmärchen, Volkswagen – Tschulligung – Volkssagen. Bei manchen ihrer Gedichte spricht man (=gelehrte Leutchen) vom Volksliedton. Das heißt singbar, aber auch nicht ganz ordentlich gebaut, also das Metrum etwas strubbelig (Füllungsfreiheit), die Reime nicht immer ganz sauber. Man (=einige verrückte Leutchen) könnte auch sagen, sie haben die beiden letzten Kapitel eifrig studiert.

Das folgende romantische Gedicht ist von Heinrich Heine und hat scheinbar (scheinbar!) ein altes Märchen zum Inhalt. Vorschlag: Lies es einfach, lass es auf dich wirken und dann gehe im zweiten Durchgang näher dran. Was fällt dir auf an Unregelmäßigkeiten oder Seltsamkeiten in Form und Sprache? Braucht nicht sehr tiefschürfend zu sein, ich muss ja auch noch ein bisschen glänzen können mit meinen Erläuterungen.

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme,
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.

Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe
Er schaut nur hinauf in die Höh’.

Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Lei getan.

(Heinrich Heine)

Zuerst: scheinbar. Das „Märchen aus alten Zeiten“ ist tatsächlich eine Erfindung aus einem damals noch recht frischen Roman von Clemens Brentano. Und wenn man das weiß, erscheint möglicherweise einiges in einem anderen Licht: weniger ergreifend, mehr spielerisch. Oder nicht ganz so vornehm gesagt: Lug und Trug.

Äußerlich fallen die verschieden langen Zeilen auf. Heine hat drei Hebungen pro Vers veranschlagt und einen Senkungsbeginn, also Jambusverdacht, aber eben auch Füllungsfreiheit, mal zwei, mal eine Senkung zwischen den Hebungen. Wie beim Knittelvers würde ich hier auf einen etwas natürlicheren Sprachrhythmus plädieren.

Bei romantischen Gedichten findet man das häufiger: Im Zweiertakt angelegte Verse haben zwischendrin auch mal zwei Senkungen statt einer, nicht so extrem wie hier, eher als eine Ausnahme, die dem Gedicht nichts von seiner Qualität nimmt. Du musst also nicht immer die Apostroph-Nadel nutzen, um im Zweiertakt zu bleiben. Rein musikalisch ist das bei Gedichtvertonungen auch kein Problem: Tauchen zwei statt einer Senkung auf, wird schlicht der Notenwert pro Silbe halbiert, also etwa Achtelnoten statt Viertelnoten. Wie man das singt, weiß ich auch nicht, ich verfange mich immer im Notenschlüssel.

Inhaltlich interessant ist die zweite Strophe („Die Luft ist kühl und es dunkelt ...“). Beim ersten Lesen könnte man annehmen, das ist die Situation, in der sich die Stimme des Gedichts befindet. Tatsächlich ist es bereits der Anfang vom „alten Märchen“. Also wieder Lug und Trug, aber auch ein Beispiel dafür, wie fragmentarisch in Gedichten erzählt wird. Das ist in etwa wie der Schnitt beim Film, wo die Zuschauer die Zusammenhänge zwischen den Szenen selbst konstruieren müssen. Gedichte filmisch zu bauen, ist eine kreative Option, die zum Experimentieren reizen könnte (Gibt’s irgendwo Zaunpfähle im Sonderangebot?).

In der nächsten Strophe nutzt Heine im Reim Verbformen, die schon zu seiner Zeit als veraltet galten: sitzet – blitzet. Er stützt damit sprachlich die Behauptung vom alten Märchen. Hier beginnt auch eine Reihe von Wiederholungen am Versanfang (Anapher): „Sie kämmt“, „Er schaut“. Diese sollen die Dramatik steigern. Doch gleichzeitig erlaubt er sich einen ziemlich krummen Reim: Kamme – wundersame, kurzes a – langes a. Dass er den Reim ausgerechnet beim verführerischen Lockmittel verhunzt – dem Gesang der Lorelei –, sollte zu denken geben. Vielleicht ist die Sache nicht so ernst gemeint wie gedacht.

Und dann der Schluss: „Ich glaube“. Gerade noch mit der Anapher verstärkt drohten „Felsenriffe“, es nahte der Höhepunkt des scheinbar alten Märchens, das dem Ich angeblich nicht mehr aus dem Sinn geht, und dann ganz unpoetisch: Ich glaube, das war so und so. Als ob das Ich sich nicht so genau erinnern könnte. Dazu kommen zwei Wörter im Reim, die nicht zufällig des Reimes wegen dort stehen: Das „kleine Schiffe“ ist zu einem bloßen „Kahn“ geworden, die „Gewaltige Melodei“ ist kein großer Gesang, sondern „Singen“. Es wird schlicht die Luft aus dem Märchen herausgelassen.

Heine ist insofern ein besonderer Romantiker, weil er sich auch immer wieder ironisch distanziert hat von der heilen Romantikerwelt, in der man nur das „Zauberwort“ brauchte, um aus allem ein Lied hervorzubringen. In diesem Fall hat es ihm allerdings nichts genutzt. Trotz der sprachlichen Hinweise und der Tatsache, dass die Geschichte vom alten Märchen selbst ein „Märchen“ ist, wurde sein Gedicht mit aller Ernsthaftigkeit vertont und gilt als Klassiker des romantischen Liedguts.

Was lernen wir daraus? Du bist nicht verantwortlich dafür, was Leute aus deinen Gedichten herauslesen. Du kannst Hinweise geben, die eine beabsichtigte Lesart ermöglichen. Die müssen natürlich stimmig sein. Heine hat nicht nur mal zwischendurch einen Reim verhunzt, sondern dies fügte sich in das Gesamtkonzept des Gedichts. Doch wenn deine Hinweise überlesen werden, ist da nichts zu machen. Offen zu sagen, wie was gemeint ist, ginge eher in Richtung Besinnungsaufsatz statt Gedicht. Also: Lang lebe Lug und Trug.