Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

38 - Absichtliche „Fehler“

„Achtung! Achtung! Sie betreten die verbotene Zone. Alles, was Sie ab jetzt schreiben, kann gegen Sie verwendet werden. Achtung! Achtung! Sie betreten die verbotene Zone. Alles, was Sie ab jetzt schreiben, kann gegen Sie verwendet werden.“

Einen Fehler zu einem Feature zu erklären, hat in der Softwarebranche Tradition. Wenn eine App erst mal all deine Daten ungefragt herunterlädt, weil „vergessen“ wurde, deine Zustimmung per Häkchen einzuholen, dient das deiner Sicherheit durch ein zusätzliches Backup. Dass deine Daten für Werbezwecke ausgewertet werden, ist nur eine böswillige Unterstellung.

In der Lyrik geht das Fehlermachen eine Spur eleganter, man kann sich immer auf inhaltliche Gründe berufen. Kannst du das nicht, dann hör dir noch mal den Warnhinweis oben an.

Am Anfang steht die Reimträgheit. Zur Erinnerung: Damit war das Verwenden von gleichen Reimen in mehreren Strophen oder ein Mangel an Vokalvariationen in den gehobenen Reimsilben gemeint.

Ein Ichthyosaur sich wälzte
Am schlammigen, mulstrigen Sumpf.
Ihm war in der Tiefe der Seele
So säuerlich, saurisch und dumpf,

So dämlich, so zäh und so tranig,
So schwer und so bleiern und stumpf;
Er stürzte sich in das Moorbad
Mit platschendem, tappigem Pflumpf.

(Aus: Friedrich Theodor Vischer – Prähistorische Ballade)

Der Dichter nutzt einen halben Kreuzreim und bleibt in der zweiten Strophe beim -umpf hängen. Aber er kann gut argumentieren, dass eben umpf-umpf die depressive Stimmung stützt und den Kontrast zum Nachfolgenden verstärkt.

Im nächsten Gedicht achte auf die Vokale der Reimsilben:

Im Garten wandelt hohe Mittagszeit,
Der Rasen glänzt, die Wipfel schatten breit;
Von oben sieht, getaucht in Sonnenschein
Und leuchtend Blau, der alte Dom herein.

Am Birnbaum sitzt mein Töchterchen im Gras;
Die Märchen liest sie, die als Kind ich las;
Ihr Antlitz glüht; es ziehn durch ihren Sinn
Schneewittchen, Däumling, Schlangenkönigin.

Kein Laut von außen stört; ’s ist Feiertag –
Nur dann und wann vom Turm ein Glockenschlag!
Nur dann und wann der mattgedämpfte Schall
Im hohen Gras von eines Apfels Fall!

Da kommt auf mich ein Dämmern wunderbar,
Gleichwie im Traum verschmilzt, was ist und war;
Die Seele löst sich und verliert sich weit
Ins Märchenreich der eignen Kinderzeit.

(Emanuel Geibel – Mittagszauber)

Ob -ai oder kurzes oder langes a, im Reim steht immer der gleiche Vokal. Ausnahme: Das i, wenn die Tochter die Realität lesend vergisst. Das a als wiederholter Vokal im Reim ist noch am ehesten gangbar, weil es normalerweise angenehm ins Ohr geht, also hier zu der träumerischen Stimmung passt. Du musst dir halt nur bewusst sein, was du da tust.

Immer noch beim Reim, aber ein wesentlich stärkerer Eingriff bzw. Fehler wird im folgenden Beispiel demonstriert:

In der Ecke,
Über dem verhängten Fenster an der Decke,
Wächst ein weißer Streifen Morgenlichts.
Es freue sich, wer gerne lebt!
Vom Tag, der jetzt anhebt,
Erhoff’ ich nichts.

(Ernst Lissauer – Gram)

Obwohl ich einen stärkeren Eingriff angekündigt habe, ist es tatsächlich leicht, über den Fehler hinweg zu lesen: „anhebt“ müsste eigentlich auf der ersten Silbe betont werden, bräuchte also einen zweisilbigen Reim. Die Silbe an- wird jedoch von der Hebung „jetzt“ und der Reimhebung -hebt hinuntergedrückt. Das nennt sich Tonbeugung. Die inhaltliche Begründung ist etwas wackelig, denn schließlich wird -hebt betont, bevor es zum niederschmetternden „Erhoff’ ich nichts“ kommt, doch ist „anhebt“ seiner natürlichen Aussprache beraubt, wodurch zumindest Zweifel erzeugt werden.

(Der Dichter hat übrigens in der ersten Strophe Hs=Trochäus und in der zweiten Strophe sH=Jambus genutzt. Ich erwähne es besser gar nicht, denn man muss mindestens tot sein, um sich so etwas erlauben zu dürfen, und das Totsein an sich ist nicht unbedingt ein erstrebenswerter Status.)

Den folgenden Vierzeiler habe ich mal vor vielen Jahren als Demonstrationsobjekt konstruiert. Hier wird der Zusammenhang von Inhalt und Tonbeugung deutlicher, weil eben demonstrativ:

Der Reim verfälscht Gedanken,
das Metrum mischt sie auf;
wo Silben betont zanken,
beginnt des Unglücks Lauf.

Um im dreihebigen jambischen Metrum – sHsHsH(s) – zu bleiben, muss „betont“ falsch betont werden, die Hebung zur Senkung gebeugt, während die typische Senkungsvorsilbe be- einen ungeahnten Aufstieg erlebt. Man könnte auch sagen: Die Silben zanken sich betont. Tatsächlich zanken sie auf zweierlei Weise, einmal durch die Tonbeugung, und zum anderen, wenn man die Betonung nicht umkehrt, stoßen zwei Hebungen (-tont und zan-) mit den Köpfen zusammen – Hebungsprall. Hier ist noch einer:

Wie aber muss der erste, der das Tier
Erschlug, herzlich erschrocken sein –
Da, als er sah, dass das, was flatterte,
Was sprang und schreien konnte und im Sterben noch
So flehende Welt in den Augen hatte,
Mit einemmal
Nicht mehr da war.

(Aus: Alfred Lichtenstein – Beim Betrachten einer Menschenlunge in Spiritus)

In der zweiten Zeile produziert Lichtenstein einen Zusammenstoß gehobener Silben, den diese Stelle wirklich verdient hat: „Erschlug, herzlich“ (sHHs). Das ist ein Hebungsprall, der einen zum Vegetarier bekehren könnte. Der „Fehler“ ist also wirklich ein „Feature“.

Zum Schluss der Fehlergalerie ein unreiner Reim:

Wollst endlich sonder Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod!
Und, wenn du uns genommen,
Lass uns in Himmel kommen,
Du unser Herr und unser Gott!

(Aus: Matthias Claudius – Abendlied)

„Tod“, langes o, „Gott“, kurzes o, das geht nicht wirklich als Reim auf, also: unrein. Reime bieten die Möglichkeit, vom Sinn her ziemlich entfernte Dinge zu verbinden. Will man diese Verbindung nicht, sondern gerade darauf hinweisen, dass keine Verbindung besteht, kann man zum unreinen Reim oder sogar zum Nichtreim greifen. In dem Abendlied von Claudius, das sehr religiös geprägt ist, würde ich den unreinen Reim so interpretieren, dass Gott schließlich den Tod besiegen wird. An diesen Gedanken hat man sich jahrhundertelang geklammert, als Leben und Tod viel näher beieinander waren als heutzutage.

Fehlerhafte Zusammenfassung:
Du kannst Fehler machen. Aber erstens musst du mitbekommen, dass du einen Fehler eingebaut hast – hier ist immer „Abstand gewinnen“ ein guter Ansatz –, und zweitens solltest du dir Gedanken darüber machen, ob der Fehler inhaltlich gesehen nur ein „Fehler“ ist. Wer dazu neigt, sich seine Fehler wegzureden, hat spätestens dann ein Problem, wenn andere das Gedicht lesen, z.B. eine Jury bei einer Anthologieauswahl. Oder anders gesagt:

„Achtung! Achtung! Sie betraten die verbotene Zone. Alles, was Sie geschrieben haben, wird gegen Sie verwendet. Achtung! Achtung! Sie betraten die verbotene Zone. Alles, was Sie geschrieben haben, wird gegen Sie verwendet.“