Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
37 - Knittelverse
Es wird Zeit. Zeit wofür? Es wird Zeit, Regeln aufzuweichen, Grenzen zu verschieben, Korsette zu sprengen. Ich gebe zu: „Knittelverse“ klingt nicht sehr vielversprechend, eher etwas abschätzig, und so war der Begriff auch erst gemeint, aber wenn der Herr Goethe … ja dann … vielleicht ist was dran … warum auch nicht. Also:
Knittelverse sind zumeist paargereimt, keine Strophen, aber du kannst den Text in Abschnitte unterteilen. Das Entscheidende: Jeder Vers hat vier Hebungen. Ob immer eine Senkung vorangeht oder nicht, wie viele Senkungen zwischen den einzelnen Hebungen stehen, völlig egal, man sagt: Füllungsfreiheit (Senkungen sind die Füllungen zwischen den Hebungen, was sie zweifellos nicht gerne hören). Das ist eine Abkehr vom regelmäßigen Schritt oder Tanz wie bei Jambus oder Daktylus. Eines der wohl bekanntesten Beispiele, das nicht von Goethe stammt, ist die Sache mit dem Birnbaum:
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: „Junge, wiste ’ne Beer?“
Und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn.“
(Aus: Theodor Fontane – Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland)
Hast du versucht, die vier Hebungen jeweils zu finden? Wenn nicht, probier mal.
Ich glaube, die schwierigste Zeile ist die erste. Da das Bauprinzip als Knittelvers noch nicht klar ist, würde man sehr wahrscheinlich annehmen, dass „Herr“ eine Hebung sein soll. Nun ja, die großen, alten Herren der Dichterzunft dürfen sich solche Sachen erlauben, nicht gleich zu offenbaren, wie die Birnen verteilt werden, dem Rest würde eine ebensolche auf ebendiese fallen.
Beim Knittelvers muss besonders deutlich werden, wie Hebungen und Senkungen jeweils verteilt sind. Das betrifft vor allem einsilbige Wörter. Hat man ein immer gleichlaufendes Metrum, dann gilt im Zweifel das einsilbige Wort als Hebung, das an der richtigen Stelle sitzt. Beim Knittelvers funktioniert das nicht so einfach, denn die Abfolge von Hebungen und Senkungen ist nicht regelmäßig. In diesem Gedicht sind jenseits der Reime meist einsilbige Verben für Hebungen genutzt worden, denn Verben haben wie Substantive eine große Zugkraft.
Fontane hat außerdem nur einsilbige Reime genutzt. Diese Konstanz ist keine Pflicht, du kannst durchaus mischen. Im folgenden Beispiel zeigt der Dichter in den ersten beiden Versen, dass man mit den verschiedenen Bauweisen, die der Knittelvers möglich macht, auch inhaltlich Akzente setzen kann.
Heute früh, nach gut durchschlafener Nacht,
Bin ich wieder aufgewacht.
Ich setzte mich an den Frühstückstisch,
Der Kaffee war warm, die Semmel war frisch,
Ich habe die Morgenzeitung gelesen
(Es sind wieder Avancements* gewesen).
(Aus: Theodor Fontane – Würd’ es mir fehlen, würd’ ich’s vermissen?)
*Beförderungen bei Militär oder Verwaltung
Die Aufgewacht-Zeile hat wie alle anderen vier Hebungen, aber so knapp wie möglich gesetzt als Trochäus: HsHsHsH. Damit hebt sich diese Zeile von den etwas längeren drumherum ab. Das Aufwachen ist auch formal ein Einschnitt. Außerdem hat Fontane wieder in der ersten Zeile beim Metrum getrickst, das scheint ein Tick von ihm zu sein. Um auf vier Hebungen zu kommen, muss „Heute“ versenkt werden, „früh“ ist die erste Hebung. Angezeigt wird das auch durch das Komma, das eine Lesepause erzeugt. Dieser Trick war bei der Akzentverschiebung (Kapitel „Jambus spezial“) bereits ein Thema. Die Komma-Lesepause versorgt das einsilbige Wort davor mit dem gehobenen Status.
Das war jetzt zweimal Fontane mit seinem Erstzeilenknick, doch zu Anfang hieß es, Goethe hätte dem Knittelvers als ernstzunehmender Form Geltung verschafft. Wie hat er das gemacht? Na ja, mit einem Grammatikfehler: der statt die Faust.
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in raue Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes:
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen.
Aus dem hohlen, finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
(Aus: Johann Wolfgang von Goethe – Faust I)
Goethe hat in seinem ersten Faust-Drama viele verschiedene Versmaße genutzt und eben auch den Knittelvers, ohne dass diesem eine komische Note angehängt wurde. Und da Goethe ein bisschen goethenwahnsinnig war, konnte er sich natürlich nicht mit dem Paarreim zufriedengeben. Im ersten Teil des Ausschnitts wird das Reimschema ziemlich gemixt. Falls dir auch ein bisschen nach Goethenwahn ist, schau dir den Ausschnitt etwas kritischer an, und du wirst sehen: Selbst Goethe musste sich manchmal mühen, um auf seine vier Hebungen inklusive Reim pro Vers zu kommen.
Tatsächlich ist der Knittelvers nicht einfacher zu bauen als regelmäßige Zweier- oder Dreiertaktverse, obwohl er scheinbar einer Dichterin mehr Freiheiten lässt. Sein Sprachfluss wirkt nur wesentlich natürlicher, denn Menschen reden nun mal nicht konsequent in Jamben, auch wenn das keine schlechte Idee wäre, weil konzentrationsfördernd.
Themawechsel (aber der Knittel bleibt): Das Leben ist auch in der Lyrik manchmal ungerecht. Was dem Goethe als Tat zur Bereicherung der Formenvielfalt in der Lyrik angerechnet wurde, führt bei einer Frau, die sich des Knittelverses bedient, zu handfesten Verbesserungsversuchen:
Gefahren bin ich in schwankendem Kahne
Auf dem blaulichen Oceane,
Der die leuchtenden Sterne umfließt,
Habe die himmlischen Mächte begrüßt.
War in ihrer Betrachtung versunken,
Habe den ewigen Äther getrunken,
Habe dem Irdischen ganz mich entwandt,
Droben die Schriften der Sterne erkannt
Und in ihrem Kreisen und Drehen
Bildlich den heiligen Rhythmus gesehen,
Der gewaltig auch jeglichen Klang
Reißt zu des Wohllauts wogendem Drang.
Aber ach! es ziehet mich hernieder,
Nebel überschleiert meinen Blick,
Und der Erde Grenzen seh’ ich wieder,
Wolken treiben mich zurück.
Wehe! Das Gesetz der Schwere
Es behauptet nur sein Recht,
Keiner darf sich ihm entziehen
Von dem irdischen Geschlecht.
(Karoline von Günderrode – Der Luftschiffer)
Karoline von Günderrode nimmt zwar eine männliche Rolle ein, aber selbst das nützt nichts. Einige ihrer Versanfänge, die eine Hebung haben müssen, sind etwas schwach gebaut. In Zeile zwei „Auf“, das geht noch, aber die beiden „Der“-Anfänge in Zeile drei und elf sowie das „Von“ in der Schlusszeile leiden etwas an Hebungsscheu. Auch auffällig: Gegen Ende wechselt die Dichterin zum Kreuzreim, wobei sie einmal den Reim vermeidet („Schwere“ – „entziehen“). Das ist inhaltlich begründbar, doch was wäre zu tun, wenn man konsequent reimen wollte?
Also: Versuche die schwachen Zeilenanfänge behutsam zu reparieren und am Schluss einen Reim zu finden, der inhaltlich so wenig wie möglich ändert. Mir scheint die viertletzte Zeile am ehesten Verbesserungsversuche zu vertragen, da dort „das“ eine ziemlich schwache Hebung ist.