Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

36 - Beiläufige Reime

Reim und beiläufig? Wie soll das gehen? Das geht ganz gut. Ich habe zwischendurch diese Möglichkeit schon erwähnt, weil es eben keine gute Idee ist, wenn der Reim immer den Höhepunkt eines Verses darstellt. Eine geschlossene Reihe von Höhepunkten ergibt nämlich schlaumeierlich ausgedrückt eine flache Ebene. Ein bisschen Auf und Ab, Hin und Weg, Brems und Gas macht ein Gedicht lebendiger. Und wo ich schon beim Thema bin: Am Morgen aufzustehen, ist auch eine Übung, lebendig zu werden. Schau dir beim folgenden Gedicht an, wie Ringelnatz die Sätze auf die Verse verteilt und welche Wirkungen das auf die Reime hat.

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.

Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
und gratuliert mir zum Baden.
Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
betiteln mich „Euer Gnaden“.

Aus meiner tiefsten Seele zieht
mit Nasenflügelbeben
ein ungeheurer Appetit
nach Frühstück und nach Leben.

(Joachim Ringelnatz – Morgenwonne)

Die erste Strophe ist noch ganz klassisch gebaut: ein Vers, ein Satz. Der Doppelsatz in Zeile drei stört nicht weiter, da hätte auch ein Komma gepasst. In Strophe zwei – so langsam kommt das Blut in Wallung – fließen zwei Sätze durch die vier Zeilen. Der erste Satz hätte auch in Zeile eins enden können, von daher ändert sich für den Reim nichts, er steht klanglich exponiert am Ende. Anders sieht die Lage im zweiten Teil der Strophe aus. Der Satz flutscht ungebremst durch beide Zeilen, ein flüssiger Zeilensprung oder nasenflügelangelegt: Enjambement. Das Reimwort „Wichs“ verliert dadurch an Bedeutung für den Klang, ist aber immer noch deutlich hörbar, weil die Zeile länger ist als die Nachbarzeilen.

Strophe drei – das „Subjekt“ ist nun vollends wach, bereit für den Tag – kommt mit einem einzigen Satz aus, der fast ohne Pause durch alle Zeilen geht. Die Reime sorgen zwar für Wohlklang, aber eben nur beiläufig. Ich sage „fast ohne Pause“, weil der Satz auch nach der dritten Zeile hätte enden können. Das verursacht ein kleines Stocken im Lesefluss, eine kleine Verzögerung, wodurch die letzte Zeile triumphaler hinausgeschleudert werden kann.

Wie so oft bei einem einzelnen formalen Merkmal ist seine Wirkung nicht eindeutig festgelegt. Ein Reim im Vorübergehen kann durch einen Satzbau, der mehr als eine Zeile beansprucht, dazu beitragen, einen Text zu beschleunigen, aber auch ihn gemächlicher werden zu lassen.

Es ist so still; die Heide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle,
Ein rosenroter Schimmer fliegt
Um ihre alten Gräbermale;
Die Kräuter blühn; der Heideduft
Steigt in die blaue Sommerluft.

(Aus: Theodor Storm – Abseits)

„Es ist so still“, und damit es so bleibt, müssen sich die Reime zum Teil dem Satzbau unterordnen, sie werden durch fließende Zeilensprünge unaufdringlich. Das Tempo ist langsam, eigentlich könnte man die Strophe auch in drei lange Zeilen umschreiben. Interessant ist, dass Storm in zwei Zeilen durch ein Semikolon eine Lesepause (Zäsur) anzeigt. Das Zerteilen von Versen habe ich bisher als Tempomacher dargestellt, doch hier ergibt sich erst eine Lesepause und dann eine kurze Stauung durch das Hebungsende beim Enjambement. Das Überfließen der Zeile ist eher ein Plätschern. Ganz anders ist das im folgenden Beispiel:

Zwei Segel erhellend
Die tiefblaue Bucht!
Zwei Segel sich schwellend
Zu ruhiger Flucht!

Wie eins in den Winden
Sich wölbt und bewegt,
Wird auch das Empfinden
Des andern erregt.

Begehrt eins zu hasten,
Das andre geht schnell,
Verlangt eins zu rasten,
Ruht auch sein Gesell.

(Conrad Ferdinand Meyer – Zwei Segel)

In diesem Gedicht kommen viele Faktoren zusammen, um das Lesetempo zu steigern. Die Verse sind kurz. Der zweihebige Amphibrachys – sHssH(s) – dient als Metrum. Es ergibt sich ein Verhältnis von Hebungen zu Senkungen von vier zu sieben jeweils in zwei Zeilen. Die Senkungen, wo sie im Zweierpack auftreten, verschärfen das Tempo. Dann gibt es einen parallelen Satzbau in der ersten Strophe und schließlich die Satzkonstruktion übers Zeilenende hinweg in den ersten beiden Strophen.

Die letzte Strophe zeigt dann wieder den klassischen Fall: Die Teilsätze enden mit dem Vers, die Reime kommen voll zur Geltung, während in den ersten beiden Strophen jeweils nur der Reim von Zeile zwei zu vier klanglich auffälliger ist.

Reime in fließenden Zeilensprüngen zu „verstecken“, ist folglich eine sehr flexible Möglichkeit. Mindestens sorgt sie für ein bisschen Abwechslung, doch in Zusammenarbeit mit anderen Faktoren kannst du das Tempo eines Gedichts variieren. Auch lässt sich etwas inhaltlich hervorheben, wenn ein Satz nur ganz kurz in die nächste Zeile läuft:

Weinet, denn wir werden wiederkehren
Und wir werden Menschen sein.
Aber zwischen Mensch und Menschen liegen
Welten. Und nicht: – wer wird einmal siegen? –
Ist die Frage – – Wer wird menschlich sein?

Weinet, denn wir werden wiederkehren,
Jugendwege wiedersehn.
Und dort gehen wieder junge Leute
Wie einst wir. Doch dieses neue Heute
Fürchte ich – – wir werden’s nicht verstehn.

(Aus: Guido Zernatto – Heimkehr)

Zeile drei fließt in die nächste Zeile, doch der Satzbau stoppt nach dem ersten Wort: „Welten“. Dieses isolierte Wort lässt die Trennung zwischen „Mensch und Menschen“ nachhallen. Der Dichter nutzt den Streit zwischen Vers- und Satzbau, wer der Boss ist, zur Verstärkung seiner inhaltlichen Aussage, der Reim wird zur Nebensache.

Ähnlich ist es am Schluss der zweiten Strophe, doch es gibt einen Unterschied beim Zeilensprung von Zeile acht zu neun. Hier könnte der Satz auch nach Zeile acht beendet sein, es kommt zu einem kurzen Stocken im Lesefluss. Da aber kein Punkt gesetzt ist, wird angezeigt, dass der Satz weiterläuft. Dieser stockende Zeilensprung erzeugt ein klein wenig Spannung, der Versbau trennt Satzbestandteile und isoliert den Überhang des Satzes. So wird das Trennende zwischen den Generationen betont.

Wie auch immer der Zeilensprung gestaltet ist, ob fließend oder stockend, wenn der Satz nur kurz weiterläuft, wird der Schluss des Satzes umso wichtiger. Die Botschaft für dich ist, dass die Reime nicht bestimmen müssen, wie sich Satz- und Versbau zueinander verhalten. Vers und Reim sind nicht die Chefs, zu denen man nur „Ja und Amen“ sagen darf. Nimmst du sie etwas weniger wichtig, schaffst du dir neue Möglichkeiten, ein Gedicht inhaltlich zu gestalten. Dein „Job“ wird interessanter.

Zwei Ansätze hätte ich zu bieten, um die Chefignorierung zu üben. Zum Warmmachen könntest du die beiden Sätze aus Conrad Ferdinand Meyers Gedicht nehmen:

„Zwei Segel erhellend die tiefblaue Bucht!
Zwei Segel sich schwellend zu ruhiger Flucht!“

Schreibe sie inhaltlich neu mit der Vorgabe, die Reimstruktur (aber nicht diese Reime) zu erhalten. Ziel ist, Sätze zu bilden, die nicht nur am Schluss, sondern auch mittendrin reimen, so dass Nebenbeireime durch Satzbauten über mehrere Zeilen möglich werden.

Es würde reichen, wenn du damit ein wenig spielst. Ist dir nach mehr, dann schlage ich vor, ein Gedicht zu einem Thema wie „Regen, Fluss, Überschwemmung“ zu schreiben, wo du dann das inhaltliche Überschwemmen auch gestalterisch umsetzen könntest.