Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

35 - Grotesk

Ende des 15. Jahrhunderts fand man in Italien bei Ausgrabungen eine Grotte mit antiken Ornamenten, wie man sie noch nie zuvor gesehen hatte: Pflanzen gingen über in Tiere gingen über in Menschen. Die heilige Ordnung der Natur war umgestoßen worden. Die Darstellungen schienen lächerlich und grauslich zugleich, man nannte sie abgeleitet von ihrem Fundort: grottesca.

Im Laufe der Zeit wanderte der groteske Stil von der Malerei in andere Bereiche der künstlerischen Kreativität. Zunächst behielt das Groteske seine Mischung von Widernatürlichem und Abscheuerregendem, das lächerlich wirkte, aber nicht wirklich zum Lachen war. Einen Sinn suchte man vergebens. Doch nach und nach schwächte sich der Begriff ab, bis er schließlich in der Realität landete, in der alles, was übertrieben außergewöhnlich mit Tendenz zum Lachhaften war, grotesk genannt wurde.

Warum erzähle ich das? Habe ich einen Hintergedanken? Ich habe. Könnte man nicht, könntest du nicht … ich meine, die Welt wimmelt nur so vom Grotesken. Und wenn’s nicht ganz reicht, ein bisschen steigern, ein bisschen verfremden und schon sind wir in einer grotesken Welt:

Auf dem Fliegenplaneten,
da geht es dem Menschen nicht gut:
denn was er hier der Fliege,
die Fliege dort ihm tut.

An Bändern voll Honig kleben
die Menschen dort allesamt,
und andere sind zum Verleben
in süßliches Bier verdammt.

In einem nur scheinen die Fliegen
dem Menschen vorauszustehn:
man bäckt uns nicht in Semmeln
noch trinkt man uns aus Versehn.

(Christian Morgenstern – Auf dem Fliegenplaneten)

Auch die Verzerrung von Größenordnungen gehört zum grotesken Programm. In diesem Gedicht wurden nicht Menschen und Fliegen zu neuen Wesen kombiniert, nur die Rollen vertauscht. Näher am ursprünglichen Begriff „grotesk“ ist das folgende Beispiel:

Einst lag ein Mensch vor dir.
Aus seinen Augen flogen wunde Adler,
            Umklagten dich –
            Du gingst vorbei.

Dann stand ein Mensch am Weg.
Aus seinen Augen schwirrten Spatzenschwärme
            In schrillem Spott –
            Da bliebst du stehn.

Ein dritter stieß dich an!
Aus seinen Augen krochen krumme Spinnen,
            Bespieen dich –
            Den liebtest du.

(Hanns von Gumppenberg – Taschenspieleraugen)

Das Groteske lädt ein zum Spielen. Der Phantasie werden keine Hindernisse in den Weg gestellt, denn Sinn zu erzeugen ist nicht Teil des Programms. Selbst auf eine komische Wirkung muss niemand Rücksicht nehmen. Die Frage darf unbeantwortet bleiben, ob etwas komisch im Sinne von seltsam oder komisch im Sinne von lustig, witzig erscheint. Es reicht völlig, wenn das Gedicht grotesk ist. Also: Wie wär’s?