Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
34 - Fünf- und Siebenzeiler
Ganz klar, Drei- und Sechszeiler sind die Eltern der Fünf- und Siebenzeiler. Von ersteren haben sie die krumme Zeilenzahl geerbt, die sich nicht unbedingt für reine Paar-, Kreuz- und umarmende Reime eignet, von letzteren die Vielfalt der Möglichkeiten, das Reimschema zu gestalten. Ich würde sogar sagen: Bei Siebenzeilern ist der Reimhimmel die Grenze, die Phantasie hat beim Reimschema ein Freispiel.
Die einfachste Möglichkeit, einen Fünfzeiler zu produzieren, ist, einen Vierzeiler mit ungereimter Zusatzzeile (Waise) zu schreiben. Achte bei den ersten drei Zeilen auf den Reim:
Es mag um zwölf gewesen sein.
Da kracht’ ein Donnerschlag.
Ein scheußlich schwefelgelbes Licht
Schien mir durchs Fenster ins Gesicht
Fast wie am hellen Tag.
(Aus: Guido Zernatto – Hochwasser)
Ich gestehe alles (Irreführung) und bitte um Gnade: Da ist kein Reim in den ersten drei Zeilen. Wenn du wie hier einen umarmenden Reim oder einen Kreuzreim nutzt, dann wirkt bei reimloser erster Zeile die Strophe zu Beginn wesentlich natürlicher, falls du jemanden sprechen lässt, was im Beispiel durch „Schien mir“ zum Ausdruck kommt. Eine weitere interessante Möglichkeit ist, die reimlose Zeile als Refrain zu nutzen:
Wenn sanft du mir im Arme schliefst,
Ich deinen Atem hören konnte,
Im Traum du meinen Namen riefst,
Um deinen Mund ein Lächeln sonnte –
Glückes genug.
Und wenn nach heißem, ernstem Tag
Du mir verscheuchtest schwere Sorgen,
Wenn ich an deinem Herzen lag
Und nicht mehr dachte an ein Morgen –
Glückes genug.
(Detlev von Liliencron – Glückes genug)
Hier wird die Zeile ohne Reim in Kombination mit einem Kreuzreim-Vierzeiler eingesetzt. Paarreim ginge natürlich auch, selbst die Position der reimlosen Zeile am Anfang oder Ende des Fünfzeilers ist kein unumstößliches Gesetz.
Bringt der November reichlich Regen,
macht er’s nur des Reimes wegen.
Bringt er aber Sonnenschein,
zeigt als Monat er viel Mut,
weil er Gutes reimlos tut.
(Hans Retep – Dichterregel zu November)
Dass der Sonnenschein im Gegensatz zum Regen sich nicht reimt, bringt Inhalt und Reimgestalt in Übereinstimmung. Das Gedicht ist zudem ein Nachschlag zu unerwünschten Wiederholungen: Viermal „er“ hintereinander, aber nur eins steht in einer Hebung, ein anderes wird durch das angehängte Apostroph-s getarnt und alle „er“ in den Senkungen stehen neben ziemlich starken Betonungen, also ist der Dichter noch mal so gerade davongekommen.
Nun gibt eine reimlose Zeile zwar hübsche Möglichkeiten, aber was ist, wenn du durchgängig reimen willst? An welches Reimschema erinnert die folgende Strophe?
Leise hör ich dich rufen
in jedem Flüstern und Wehn.
Auf lauter weißen Stufen,
die meine Wünsche sich schufen,
hör ich dein Zu-mir-gehn.
(Aus: Rainer Maria Rilke – titelloses Gedicht)
Du könntest auf einen umarmenden Reim plädieren, wobei die erste Zeile einen zusätzlichen Reim zum Paarreim funkt. Eine andere Betrachtungsweise wäre, einen um eine Zeile verzögerten Kreuzreim zu sehen. Wie auch immer, dieses Schema a b a a b ist die meistgenutzte Variante, wenn ein Fünfzeiler durchgängig gereimt wird. Hier ist es ein Liebesgedicht, doch ich könnte mir vorstellen, dass sich diese Variante gut für eher witzig-pointierte Verse eignet. In jedem Fall gibt es einen Spannungsaufbau, weil im Leseverlauf nicht gleich klar ist, zu welchem Schema die Reime führen.
Was bei Fünfzeilern auch eher geht als etwa bei Dreizeilern, ist ein Dreireim, denn er ist ja nicht der einzige Reim in der Strophe.Wieder führt Rilke das vor – als verzögerten umarmenden Reim:
Ein Tor geht irgendwo
draußen im Blütentreiben.
Der Abend horcht an den Scheiben.
Lass uns leise bleiben:
Keiner weiß uns so.
(Aus: Rainer Maria Rilke – titelloses Gedicht)
Auch bei diesem Reimschema würde mit Sicherheit eine Schlusspointe gut passen, zumal der Dreireim eventuell penetrant wirkt, was durch Wiederholungen anderer Art verstärkt werden könnte.
Eine Variante, die wir schon beim Dreizeiler gesehen haben, ist das Reimen über Strophen hinweg, Korn genannt. Tipp: Schau dir auch die Vokale in den Reimen an.
So wird es kommen, so kommt es gewiss:
Es naht die Nacht und die Finsternis.
Wir stehen beide am Scheidewege.
Stumm gehen des Herzens schmerzliche Schläge:
„Noch bist du mein! – noch bist du mein! ...“
Viel will ich noch sagen und kann es nicht.
Ich streichle nur immer dein liebes Gesicht.
Von meinem Nacken löst du die Hände,
Und ich begreife: das ist das Ende! - -
Und rings erblasst der letzte Schein …
(Aus: John Henry Mackay – titelloses Gedicht )
In den beiden Paarreimen stehen jeweils die gleichen Vokale in den Reimsilben, kurzes i sowie e/ä betont und e unbetont. Die einzelne Kornzeile hat einen anderen Vokal als die Paarreime. Da es in dem Gedicht um eine Trennung geht, würde ich nicht auf Zufall tippen. Es zeigt sich, dass ein Fünfzeiler gestalterische Möglichkeiten bietet, die weit über die des vielgenutzten Vierzeilers hinausgehen. Und nein, hier winkt niemand mit dem Zaunpfahl, würde ich nie tun. Da ist auch nichts, was ich hinter meinem Rücken verstecke.
Wo wir gerade so nett bei vielfältigen gestalterischen Möglichkeiten sind: Siebenzeiler. Wenn schon Fünf- und Sechszeiler dramatisch viele Variationen beim Reimschema offerieren, dann sollte fünf plus eins plus eins nach Eva Riese und Adam Zwerg noch viel mehr Möglichkeiten ergeben. Tut es, aber ich will hier nur ein „heiliges“ Schema vorstellen, der Rest ist deiner Phantasie überlassen. Welches Reimschema nutzt der Dichter? Klau dir ein paar Buchstaben und schreib mit:
Es war mal ein Ritter trübselig und stumm,
Mit hohlen, schneeweißen Wangen;
Er schwankte und schlenderte schlotternd herum,
In dumpfen Träumen befangen.
Er war so hölzern, so täppisch, so links,
Die Blümlein und Mägdlein, die kicherten rings,
Wenn er stolpernd vorbeigegangen.
(Aus: Heinrich Heine – titelloses Gedicht)
Das Reimschema in buchstabisch: a b a b c c b. Warum ist es „heilig“? Nun, es hat einen Namen: Lutherstrophe, weil Martin Luther dieses Schema für Kirchenlieder verwendet hat. Was daran besonders kirchlich oder singbar ist, kann ich auch nicht sagen. Doch ist es nicht verkehrt zu wissen, wenn du dieses Reimschema irgendwann mal verwenden solltest, dass es eine Geschichte hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Heine das wusste und es gerade deshalb für dieses Gedicht über einen trotteligen Ritter verwendet hat.
Wie nun einige Male ganz sanft angedeutet, hast du bei siebenzeiligen Strophen eine Riesenauswahl an Reimschemata – und viel Platz für Inhalte. Der Haken bei sehr unkonventionellen Mustern ist nur, diese dann auch in den Folgestrophen zu verwenden. Doch sich selbst herauszufordern, kann auch Spaß machen. Und wo ich gerade beim Thema bin: Wie wäre es, wenn du dich an einem Gedicht versuchst, über etwas, das kompliziert, verwirrend oder chaotisch scheint in der ersten Strophe? In der zweiten wird dann die Verwirrung vielleicht etwas umständlich aufgelöst, aber insgesamt schreit das Thema nach einem ziemlich wirren Reimschema, nicht wahr? Inhaltlich kämen mir folgende Ideen: Beschreibung eines Ameisenhaufens oder Bienenstocks, Liebe ist auch immer ziemlich verwirrend, oder ein Gedicht über die Wirrnisse des Gedichteschreibens oder oder oder …