Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
33 - Wiederholungen
Selbst in einem gereimten Gedicht sind Wiederholungen ein auffälliges Gestaltungsmerkmal, so auffällig, dass man sogar – oh Schreck, oh Graus – auf Reime verzichten könnte. Der größte Wiederholungskünstler des 19. Jahrhunderts war Friedrich Rückert. Im folgenden Gedicht führt er vor, was man mit der Wiederholung am Versanfang veranstalten kann, die auf den hübschen Namen Anapher hört (zumindest ihre Eltern meinten, dass es ein hübscher Name sei):
Ich liebe dich, weil ich dich lieben muss;
Ich liebe dich, weil ich nichts anders kann;
Ich liebe dich nach einem Himmelschluss;
Ich liebe dich durch einen Zauberbann.
Dich lieb’ ich, wie die Rose ihren Strauch;
Dich lieb’ ich, wie die Sonne ihren Schein;
Dich lieb’ ich, weil du bist mein Lebenshauch;
Dich lieb’ ich, weil dich lieben ist mein Sein.
(Friedrich Rückert)
Intensität ist das erste Wort, das mir bei diesem Gedicht einfällt. Wiederholungen erschaffen Intensität. Die Reime verblassen ein wenig dagegen. Rückert hat einen vollständigen Dreiwortsatz an den Anfang gestellt, aber es würde auch ein einzelnes Wort reichen:
Solchen Monat muss man loben:
Keiner kann wie dieser toben,
Keiner so verdrießlich sein
Und so ohne Sonnenschein!
Keiner so in Wolken maulen,
Keiner so mit Sturmwind graulen!
Und wie nass er alles macht!
Ja, es ist ’ne wahre Pracht.
(Aus: Heinrich Seidel – November)
Penetranz ist das erste Wort, das mir bei diesem Gedicht einfällt. Wiederholungen erschaffen Penetranz. Je weiter der Text fortschreitet, desto mehr haben die Reime um Aufmerksamkeit zu kämpfen. Ich würde sogar sagen, wenn du dir irgendwo bei Reimen Unsauberkeiten erlauben willst, dann geht das am ehesten mit einer Wiederholungsstruktur am Anfang der Verse.
Eine etwas schwächere Form der Wiederholung ist der parallele Satzbau, der im folgenden Gedicht jeweils über zwei Zeilen geht. Neben dem Reimkuriosum zu Beginn ist interessant zu beobachten, wann der Dichter die parallelen Satzbauten unterlässt.
Augen, die noch nicht sehen,
Werden mein Grab einst blühen sehn;
Füße, die noch nicht gehen,
Werden daran vorübergehn./p>
Lippen, die noch nicht lachen,
Werden sich öffnen im Sonnenschein,
Herzen, die noch nicht wachen,
Werden schlagen und fröhlich sein;
Werden dem Leben sich schenken,
Schenken der seligen Stunde sich,
Und werden der Toten so wenig gedenken
wie einstmals ich!
(Carl Busse – Zukunft)
Die Reime in der ersten Strophe habe ich so bisher nur bei Anfängern gesehen. Es trotzdem zu machen, ist mutig, aber ich meine, die Verzahnung der Reimwörter passt hier, weil sie die inhaltliche Verzahnung von alter und neuer Generation widerspiegelt.
In der letzten Strophe wendet sich der Dichter vom parallelen Satzbau ab und schafft dadurch besondere Aufmerksamkeit. Es gilt hier das, was auch bei vielen anderen Gestaltungsmerkmalen gilt: Wer Regelmäßigkeiten aufbaut, kann die Abkehr davon als „gestalterische Waffe“ einsetzen.
Themawechsel: Aus der Welt der Lieder, Songs, Chansons ist der Refrain bekannt, auch Kehrreim genannt, eine oder mehrere Zeilen wiederholen sich. Bei Gedichten ist es meist so, dass der Refrain Teil der Strophe ist.
Schlaf, mein Kind – schlaf, es ist spät!
Sieh, wie die Sonne zur Ruhe dort geht,
Hinter den Bergen stirbt sie im Rot.
Du – du weißt nichts von Sonne und Tod,
Wendest die Augen zum Licht und zum Schein –
Schlaf, es sind soviel Sonnen noch dein,
Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein!
Schlaf, mein Kind – der Abendwind weht.
Weiß man, woher er kommt, wohin er geht?
Dunkel, verborgen die Wege hier sind,
Dir und auch mir und uns allen, mein Kind!
Blinde – so gehn wir und gehen allein,
Keiner kann keinem Gefährte hier sein –
Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein!
(Aus: Richard Beer-Hofmann – Schlaflied für Mirjam)
Dieses Gedicht hat zwei weitere Strophen, nur die letzte variiert den Beginn des letzten Verses. Die sehr auffällige Wiederholung hat ihren Preis: Um im Reimformat integriert zu sein, braucht es immer den gleichen Reim am Schluss, in diesem Fall ist der Reim auf -ein sogar ein Dreireim. Es muss folglich ein guter Vorrat an passenden Reimwörtern zur Verfügung stehen. Doch wie am Anfang bereits finster angedeutet, Wiederholungen können Reime überflüssig machen:
Du lässt die Kranken gesunden,
die Armen machst du reich
mit deinem Lächeln.
Du wandelst den Winter zum Frühling
und jedes Tief in ein Hoch
mit deinem Lächeln.
Du bringst die Waffen zum Schweigen
und Frieden in alle Welt
mit deinem Lächeln.
Die Titanic wär nie gesunken,
du hättest geschmolzen das Eis
mit deinem Lächeln.
Du gibst der Menschheit viel Gutes,
beglückst ein jedes Land,
nur ich, ich bitte um Gnade,
du bringst mich um den Verstand
mit deinem Lächeln.
(Hans Retep – Ich bitte um Gnade)
Tatsächlich hat sich doch ein Reim am Schluss eingeschmuggelt (Land – Verstand), doch wirklich vermisst werden die Reime bei diesem Gedicht nicht. Die Wiederholung und eine gewisse Konstanz beim Metrum reichen aus, um dem Text Rhythmus zu geben – und Verzweiflung, das erste Wort, das mir bei diesem Gedicht einfällt. Wiederholungen erschaffen Verzweiflung.
Unerwünschte Wiederholungen
Ein erstes Stichwort zu unerwünschten Wiederholungen habe ich bereits behandelt: Die Reimträgheit im Kapitel Besser reimen, also das unbeabsichtigte und inhaltlich nicht abgedeckte Wiederholen von Reimendungen und -vokalen. Ein weiterer unerwünschter Gast im Gedicht ist die Wiederholung von Wörtern, die nicht wirklich eine Wiederholung verdienen.
Nur keine Sorge,
mir wird schon nichts geschehen,
du bleibst ja bei mir,
bis wir uns wiedersehen.
(Aus: Hans Retep – Abschied)
Oft sind es Pronomen oder andere unauffällige Wörter, die sich als Wiederholung einschleichen. Das muss nicht immer repariert werden, denn vor allem, wenn diese Wörter teilweise oder ganz in Senkungen stehen, fällt das kaum ins Gewicht. Das wäre dann auch der Tipp: Senkungen zu nutzen für eine nicht ganz willkommene Wiederholung. Hier stehen die beiden „mir“ tatsächlich in Senkungen, aber immer noch ziemlich auffällig, weil sie einmal am Anfang und einmal am Ende einer Zeile platziert sind.
1 – es wird mir nichts geschehen
2 – was soll schon groß geschehen?
3 – was soll mir schon geschehen?
Nummer eins verschiebt die mir-Senkung vom Zeilenanfang, Nummer zwei lässt das „mir“ ganz verschwinden, und Nummer drei holt es verschoben wieder hervor, bleibt aber bei der Frageform, so dass die wichtigste Betonung am Schluss liegt. Ohne das „mir“ schien die Frage in Nummer zwei etwas zu unpersönlich. Also wurde Nummer drei Teil des Gedichts. Die Wiederholung ist geblieben, es wurde nur versucht, sie zu „drücken“, sie unauffälliger zu machen. Entscheidend ist also nicht, alle Wiederholungen, die nebenbei eingeflossen sind, auszumerzen, sondern sich ihrer bewusst zu werden und darüber nachzudenken. Hier hilft die alterslose Regel „Eine Nacht drüber schlafen“, um solche Feinheiten zu entdecken.
Falls du auch mal Wiederholungstäterin werden willst, wie wäre es mit einem zweifelnden „Vielleicht ...“ als Anapher, das in der Schlusszeile durch eine Entscheidung oder entschiedene Haltung ausgeknockt wird?