Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
32 - Arbeit am Gedicht
Es ist seltsam: Als ich anfing, Gedichte zu schreiben, war ich glücklich, wenn eins gleich im ersten Anlauf gelang. Heutzutage macht mich ein Gedicht, das anscheinend im ersten Versuch „perfekt“ ist, eher misstrauisch. Tatsächlich arbeite ich jetzt wesentlich länger an Gedichten, obwohl die viele Erfahrung doch bewirken müsste, dass ich schneller ans Ziel komme.
Das folgende Beispiel sollte dir ein bisschen bekannt vorkommen. Dies ist die erste handschriftliche Version und ein Extremfall, denn nur die drei fett markierten Zeilen haben es unverändert in die Schlussversion geschafft.
Oktober, Oktober,
was soll der Zinnober,
dass angeblich golden er sei?
Ich seh nur die Matsche
nach all dem Geplatsche,
die macht weder glücklich noch high.
Und dann noch die Blätter,
sie stürzen, kein Retter,
und sterben mit lautlosem Schrei. .
Oktober, Oktober,
verlange kein Lob er,
weil angeblich so golden er sei.
Ich werde dir hier meine Methode vorstellen, wie ich an Gedichten arbeite. Vielleicht passt sie für dich, vielleicht nicht. Du solltest aber in jedem Fall eine haben. Ein Wurf gleich ein Treffer, das ist wirklich die Ausnahme, egal wie toll jemand schreiben kann.
Meist läuft es so, dass ich Gedichte so lange im Kopf herumwälze, bis sie komplett sind. Erst dann schreibe ich sie auf, meistens handschriftlich. Wenn du häufiger ablenkende Einflüsse hast, dann ist es wahrscheinlich besser, gleich die erste Idee, die ersten Zeilen zu notieren und später in Ruhe daran weiterzuarbeiten.
Falls Ideen oder erste Formulierungen häufiger zu nichts führen, ist das kein Drama, sondern eigentlich der ganz normale Ausleseprozess. Ich würde diese ersten Ansätze trotzdem einige Zeit aufbewahren, manchmal ergibt sich zu einem anderen Zeitpunkt etwas, eine Blockade löst sich, eine Idee kommt hinzu.
Ein Gedicht zuerst handschriftlich zu erfassen, hat den Vorteil, dass dann bereits bei der Übertragung in den Computer erste Dinge auffallen: Das ist der Effekt des Abschreibens, das wie eine Leselupe wirkt.
Im ersten Schritt solltest du die formalen Dinge wie Zeichensetzung und Rechtschreibung sowie Metrum und Reim überprüfen. Wenn bei Letzteren etwas nicht ganz astrein ist, lautet die berühmte Frage: Soll das so oder muss das weg? Und die gleichfalls berühmte Antwort lautet: Kommt drauf an. Als Daumenregel empfehle ich: Je näher du am Anfang stehst, desto eher solltest du dich an Regeln halten.
Bevor ich jedoch etwas ändere, schaffe ich in der Datei etwas Platz und kopiere den Text komplett nach oben. Ich arbeite also nicht im Originaltext, sondern in der Kopie. So kann ich immer zurückgehen auf Formulierungen, die verworfen wurden. Und das mache ich bei jedem Arbeitsgang. Nachdem ich etwas geändert habe, lasse ich das Gedicht erst mal für ein paar Stunden oder über Nacht liegen. Gibt es wieder etwas zu ändern, kopiere ich erst die aktuelle Version nach oben und dann arbeite ich in der Kopie. Tatsächlich nummeriere ich die einzelnen Versionen. Das ist nicht notwendig, aber etwas übersichtlicher.
Dieses Gedicht hat es in vier Tagen bis zur Nummer Zehn geschafft, was rekordverdächtig ist. Es gab von Anfang an einige Punkte, wo ich nicht wirklich glücklich war oder eine Zeile erst mal irgendwie vollgemacht habe, um im Fluss zu bleiben. Dazu gehörte die „high“-Zeile, denn ich bin kein Fan von Anglizismen in einem deutschsprachigen Gedicht. „sie stürzen, keine Retter“ war auch nicht besonders elegant, und der Schluss, der eine Wiederholung des Anfangs war, stand ebenfalls auf der Kippe. Wiederholungen sind im Gedicht eine interessante Gestaltungsmöglichkeit, aber hier war es wohl eher mangelnder Esprit.
Eine einzige formale Unregelmäßigkeit gab es in der letzten Zeile: „weil angeblich so golden er sei.“ Hier ist eine Senkung zu viel. Statt sHssHssH wie in den anderen Schweifreimzeilen galt: sHsssHssH. Nun kann man vor allem in der Schlusszeile mal etwas anders machen, ich habe es auch über mehrere Arbeitsgänge dringelassen, aber dann doch geändert.
Nach fünf Durchgängen sah das Gedicht so aus (alle geänderten Zeilen sind fett):
Oktober, Oktober,
was soll der Zinnober,
dass golden er angeblich sei?
Ich seh nur die Matsche
und all das Geplatsche,
es klimpert nichts golden dabei.
Und dann noch die Blätter,
die ganz ohne Retter
sich stürzen mit lautlosem Schrei.
Mein guter Oktober,
du bist mir ein Grober,
das „golden“ scheint nur Melodei.
Der Wiederholungsschluss ist raus, das „high“ ist auch verstorben, die Retterzeile eleganter. In Zeile neun wird nicht mehr gestorben, sondern gestürzt, was konkreter und weniger melodramatisch ist. Dass ich trotzdem noch fünf weitere Versionen gebraucht habe, lag vor allem an der Schlusszeile. Ich war nicht hundertprozentig überzeugt von der „Melodei“. Und am Schluss solltest du dich nie mit halbguten Sachen zufriedengeben, auch wenn es lange dauert, auch wenn es ein bisschen quälend ist, der Schluss muss sitzen.
Schließlich habe ich mich dann doch mit der „Melodei“ angefreundet und nur das erste Wort ersetzt sowie die Verben der letzten beiden Zeilen getauscht. Die Alternativen „Bohei“ und „Werbegeschrei“ waren in meinen Augen keine Verbesserungen. Das altmodische Wort „Melodei“ ist ein ironischer Abschluss, weil dem Oktober ja gerade eine seiner traditionellen Eigenschaften abgesprochen wird.
Eine wichtige Änderung habe ich erst sehr spät gemacht. Aus dem etwas leblosen „Und dann noch die Blätter“ wurde die Aufforderung „Und schaue die Blätter“. Verben bringen Leben.
Die Schlussversion lautete nun:
Oktober, Oktober,
was soll der Zinnober,
dass golden er angeblich sei?
Ich seh nur die Matsche
und all das Geplatsche,
es klimpert nichts golden dabei.
Und schaue die Blätter,
die ganz ohne Retter
sich stürzen mit lautlosem Schrei.
Mein guter Oktober,
du scheinst mir ein Grober,
dein „golden“ ist nur Melodei.
Etwas fehlt noch, nicht wahr? Was ist mit dem Titel? Habe ich mir nie wirklich Gedanken drüber gemacht. Das Thema des Gedichts ist von Anfang an klar, es sollte auch auf eine entsprechende Themenseite, also schien mir ein Titel überflüssig. Wenn du so arbeitest wie vorgeschlagen, kannst du in jeder Version einen anderen Titel ausprobieren und dich dann am Schluss endgültig entscheiden, welche Variante du nimmst.
Du musst übrigens nicht mit jeder Änderung (oder Nicht-Änderung) in diesem Gedicht einverstanden sein. Das Wichtige ist nur, dass du siehst, selbst bei so einem trivialen Text kann man sich viele Gedanken machen, kann es einiges an Hin und Her geben. Und wenn du dir keine Gedanken über dein Gedicht machst, wer soll es dann?