Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

31 - Im Dreiertakt

Bisher war das Leben einfach: Es gab Senkungen und Hebungen im Zweiertakt, entweder als Senkung-Hebung Marke Jambus oder Hebung-Senkung Marke Trochäus. Im Prinzip ist das ein Schrittrhythmus: links-rechts-links-rechts-links-rechts, wobei ein Fuß etwas kräftiger auftritt als der andere. Doch einfach wird irgendwann langweilig, und zu tanzen ist viel interessanter als zu gehen, also wie wäre es mit EINS-zwei-drei-EINS-zwei-drei? Willkommen in der Welt der Dreisilbentakte.

Feindliche, trutzige,
Rußige, schmutzige,
Hässliche Nacht,
Welche den reisenden,
Weitherum kreisenden
Herren und Knechten,
Edlen und Schlechten,
Große Furcht macht …

(Aus: Laurentius von Schnifis – Clorinda bejammert die abscheuliche Finsternis ihres Herzens)

Die ersten beiden und die mittleren Zeilen zeigen den Dreiertakt Hebung-Senkung-Senkung (Hss) jeweils zweifach ausgeführt. Die Fachleute (Hss) sagen Daktylus (Hss). Na, wenn’s ihnen a Freud’ ist. Vielleicht hast du bei diesen Zeilen auch ein bisschen den wellenartigen (böse gesagt: leiernden) Klang herausgehört. Der kann sich immer einstellen, wenn vermehrt zweisilbige Senkungen zwischen Hebungen stehen. Das ist eine Gefahr, das ist eine Chance. In den restlichen Zeilen ist der zweite Daktylus am Ende um eine oder zwei Senkungen gekürzt. Das ist völlig in Ordnung und geht auch fast gar nicht anders, weil es an dreisilbigen Reimwörtern mangelt.

Das Gegenstück zum Daktylus (Hss) ist der Anapäst (ssH), der in der Praxis noch seltener vorkommt als ersterer. Ein Beispiel: Das Gesicht und die Seele betrachtet mir wohl am Gedicht! // Denn ein Spiegel der Seele soll sein auch des Liedes Gesicht. (Wilhelm Langewiesche) Das Problem ist, klarzumachen, dass die allererste Silbe einer Zeile keine Hebung sein soll. Im Prinzip müssen Zeilen mit zwei Senkungen ziemlich schlapp anfangen, und dafür sind Anfänge eigentlich nicht da.

Damit zu meinem Lieblingsdreiertakt, der tatsächlich gut zu gebrauchen ist, aber seltsamerweise in Lehrbüchern oft verschwiegen wird: der Amphibrachys (sHs).

Oktober, Oktober,
was soll der Zinnober,
dass golden er angeblich sei?
Ich seh nur die Matsche
und all das Geplatsche,
es klimpert nichts golden dabei.

(Aus: Hans Retep – titelloses Gedicht)

Die Zutaten sind bereits bekannt: Schweifreim, Wechsel von zweisilbigen zu einsilbigen Reimen. Die letzte Senkung des Verses kann wie bei allen anderen Versfüßen weggelassen werden. Hier kommt noch dazu ein Sprung von zwei- zu dreihebigen Versen. Im Ergebnis ergeben sich bei betontem Lesen ziemlich schwungvolle Verse.

Der Vorteil des Amphibrachys ist, dass am Anfang eine Senkung steht. Wie beim Jambus dargelegt, entspricht das eher dem Satzbau im Deutschen. Die sich ergebenden zweisilbigen Senkungen zwischen den Hebungen sorgen dann für Betonungswellen, und am Schluss hast du die Wahl zwischen ein- und zweisilbigen Reimen.

Zweisilbige Senkungen sind nicht immer einfach durchzuhalten. Hier ein Beispiel aus einem alten Volkslied, in dem ein Trick gezeigt wird, wie das auch funktionieren kann:

Er pflüget den Boden, er egget und sät
und rührt seine Hände früh morgens und spät.

(Aus: Volkslied – Im Märzen der Bauer)

Die Verlängerungen der Verben in der ersten Zeile sind heutzutage „verboten“, wenn ein Gedicht nicht zu altbacken wirken soll. Die Vergangenheitsformen (pflügte, eggte) hätten aber den gleichen Effekt. Interessanter ist „und rührt seine Hände“. Eigentlich hat „seine“ eine eingebaute Betonung auf der ersten Silbe, doch weil es umzingelt ist von Hebungen in Verb und Substantiv, wird das Wort als Ganzes in Senkungen gedrückt. Kann man machen, ist aber knifflig, weil die Hebungen drumherum wirklich gut erkennbar sein müssen. Hilfreich ist, wenn du das erst machst, nachdem das Metrum über einige Zeilen hinweg etabliert wurde, Leserinnen also schon im Takt sind.

Das letzte Beispiel soll zeigen, dass die Musikalität des Amphibrachys nicht „eingebaut“ ist. Du kannst durchaus ruhige Verse damit gestalten:

Wir Toten, wir Toten sind größere Heere
Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere!
Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten,
Ihr schwinget die Sicheln und schneidet die Saaten,
Und was wir vollendet und was wir begonnen,
Das füllt noch dort oben die rauschenden Bronnen,
Und all unser Lieben und Hassen und Hadern,
Das klopft noch dort oben in sterblichen Adern,
Und was wir an gültigen Sätzen gefunden,
Dran bleibt aller irdische Wandel gebunden,

(Aus: Conrad Ferdinand Meyer – Der Chor der Toten)

Ich gebe sofort zu, dass meine Einschätzungen streng subjektiv sind, aber: Die ersten beiden Zeilen haben richtig Schwung, auch bedingt durch die Wiederholung, doch in Zeile drei wird dieser völlig herausgenommen, sie liest sich fast „prosaisch“. Zeile vier und fünf bieten dann wieder etwas mehr Schwung, doch der Rest bewegt sich jenseits von einem leiernden oder freundlicher gesagt musikalischen Rhythmus. Bei diesen langen Zeilen spielt eine große Rolle, dass eben der Amphibrachys sich in ganz normale Satzbauten einschmiegen kann.

Hast du übrigens die beiden Stellen bemerkt, wo der Dichter zweisilbige Wörter zu Senkungen degradiert hat? „Und all unser“, „Dran bleibt aller“. So herausgerissen ist nicht unbedingt klar, wo Hebung, wo Senkung liegt. Im Gedicht wird das überspielt, weil Leserinnen bereits lange auf den Betonungswellen des Gedichts gesurft haben.

Falls du auch Wellenmacherin werden möchtest, hier ein Angebot:

Remember, remember
The Fifth of November,
The gunpowder Treason and Plot,
I know of no reason
Why Gunpowder Treason
Should ever be forgot.

Wenn du etwas genauer lauschst, dann hörst du vielleicht die Ähnlichkeit, die das Oktober-Beispiel mit diesem Gedicht hat. Tatsächlich sind diese englischen Verse (aus einem Gedicht für Kinder!) daran schuld, dass ich sozusagen Fan geworden bin von den rollenden Rhythmen des Amphibrachys. Wie wäre es also, dieses Gedicht deutschsprachig zu imitieren? Zweihebige Amphibrachen in den Paarreimen, dreihebige in den Schweifreimen, wobei die hier in der Schlusszeile zu Jamben verkürzt wurden. Das geht also auch. Die Wiederholung in der ersten Zeile muss auch nicht aus einem Wort bestehen, es ginge genauso z.B.: Sie reden, sie reden ... oder: Die Liebe, die Liebe ... und Ähnliches. Hauptsache es bieten sich viele Anknüpfungspunkte für Reime.