Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

27 - Sechszeiler

Sechszeilige Strophen haben einen großen Vorteil gegenüber den beliebten vierzeiligen: Sie haben zwei Zeilen mehr. Phantastisch, nicht wahr? Finde ich auch – und zwar aus zwei Gründen. Nummer eins: Wenn du etwas mehr Inhalt in Strophen unterbringen willst, musst du nicht unbedingt sehr lange Verse bauen, sondern kannst auch leichtfüßiger die Strophen konstruieren, du hast ja mehr Platz zur Verfügung. Nummer zwei: Beim Reimschema der sechszeiligen Strophen hast du viel mehr Variationsmöglichkeiten. Den bei Sechszeilern meistgenutzten Schweifreim (a a b c c b) hatten wir schon, hier ein anderer Kandidat:

Magst den Tadel noch so fein,
Noch so zart bereiten,
Weckt er Widerstreiten.
Lob darf ganz geschmacklos sein,
Hocherfreut und munter
Schlucken sie’s hinunter.

(Marie von Ebner-Eschenbach)

Obwohl die Dichterin die inhaltliche Zweiteiligkeit wie beim Schweifreim aufrechterhalten hat, verteilt sie die Reime anders: a b b a c c, also ein umarmender Reim und ein Paarreim – könnte man sagen. Doch liest man die Reimbuchstaben rückwärts, ergibt sich von hinten nach vorne oder unten nach oben wieder ein Schweifreim. Schnupperst du ein bisschen näher an dem Gedicht, duftet es – nach Freiheit. Wenn man so einfach Reime verschieden zu einer Strophe kombinieren kann, geht da sicher noch viel mehr, ganz sicher:

Es ist so still; die Heide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle,
Ein rosenroter Schimmer fliegt
Um ihre alten Gräbermale;
Die Kräuter blühn; der Heideduft
Steigt in die blaue Sommerluft.

(Aus: Theodor Storm – Abseits)

Ganz simpel Kreuzreim und Paarreim gemixt: a b a b c c. Der große Vorteil dieses Mixes ist, dass das Gedicht nicht in ein liedhaftes Leiern verfällt, was passieren kann, wenn nur der Kreuzreim über mehrere Strophen verwendet wird. Der Schlusspaarreim bremst diese Gefahr immer wieder aus und trägt im Beispiel zu der etwas entspannten Stimmung bei.

Das nächste Gedicht nutzt den Kreuzreim, um nicht zu reimen:

Die verehrlichen Jungen, welche heuer
Meine Äpfel und Birnen zu stehlen gedenken,
Ersuche ich höflichst, bei diesem Vergnügen
Womöglich in so weit sich zu beschränken,
Dass sie daneben auf den Beeten
Mir die Wurzeln und Erbsen nicht zertreten.

(Theodor Storm – August (Inserat))

Storm verwendet den halben oder heterogenen Kreuzreim, damit sein „Inserat“ natürlicher wirkt, und er schließt wiederum mit dem Paarreim ab. Es ist also durchaus eine Option, in einem Sechszeiler eine oder zwei Zeilen ungereimt zu lassen und dann Reime frei zu kombinieren. Der Wohlklang bleibt erhalten, der Reimklang drängt sich nicht so auf. Die Gestaltungsmöglichkeiten vervielfachen sich.

Eine andere Möglichkeit bei Sechszeilern, die Reime etwas in den Hintergrund treten zu lassen, ist, einen großen Abstand zu halten, wie im Reimschema a b c c b a:

Wie oft wirst du gesehn
Aus stillen Fenstern,
Von denen du nichts weißt ...
Durch wie viel Menschengeist
Magst du gespenstern,
Nur so im Gehn ...

(Christian Morgenstern – Aus stillen Fenstern)

Dieser umarmende umarmende Reim von Zeile eins zu sechs ist kaum noch wahrnehmbar, wie auch die stillen Beobachter am Fenster kaum wahrnehmbar sind. Morgenstern hat zudem zwischen zwei- und dreihebigen Versen gewechselt, allerdings ohne dass auf den ersten Blick ein System erkennbar ist. Auch dies kann zu einem natürlicher wirkenden Sprachfluss führen, wenn die Zeilen nicht alle gleich „gestanzt“ werden.

Anregungen zum Selberbauen: Du könntest schlicht eins der vorgestellten Reimschemata nehmen, das dich interessiert und daraus ein Gedicht bauen. Oder du erfindest dir dein eigenes Reimschema, es gibt im Prinzip keine Grenzen, außer dass nicht mehr als sechs Zeilen zur Verfügung stehen. In diese Richtung geht auch Vorschlag Nummer drei: Nimm ein Wort, das keine Reime hat (Mensch, Apfel, Knospe, Schönheit, Klugheit usw.), schreibe eine Zeile, die dieses Wort am Ende enthält und versuche, den Rest der Zeilen zu reimen. Es sollte sich ganz von selbst ein ungewöhnliches Reimschema ergeben. Thema? Eine Möglichkeit wäre: Alles, was sechs Beine hat, z.B. Fliegen oder Ameisen.