Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

26 - Schnappschüsse

Wer einmal mit dem Reimen angefangen hat, findet plötzlich überall welche. Als Kontrastprogramm und kleine kreative Übung, die du immer mal wieder zwischendurch durchführen kannst, bietet sich das Haiku an. Haiku ist eine traditionelle japanische Kurzgedichtform: kein Titel, keine Reime, kein Metrum, nur drei Zeilen mit insgesamt maximal 17 Silben. In früheren Zeiten hat man auf exakt 17 Silben bestanden mit dem Zeilenmuster 5-7-5 Silben, weil das im Japanischen so gehandhabt wird. Doch japanische Silben sind zumeist feste Lautverbindungen, die gleich lang sind, im Deutschen hingegen hat Lilie drei Silben, Schlauch nur eine. Welches ist das längere Wort? Reines Silbenzählen haut im Deutschen nicht hin. Interessanter ist, so kurz wie möglich zu schreiben. Wenn dir zwölf Silben reichen, prima.

Inhalt eines Haiku sollte nur sein, was mit den Sinnen wahrnehmbar ist, keine Kommentare, keine Erklärungen. Nun kannst du in 17 Silben nicht viel hineinpacken. Die Kunst besteht folglich darin, eine Momentaufnahme (Präsens!) zu bieten, die Leserinnen nachvollziehen und wozu sie sich ihre eigenen Gedanken machen können. Beispiele:

auf der Terrasse
laufen Kinder barfuß
schreiend durch den Schnee

früher Morgen
ein leichtes Zittern
geht durch die Tulpen

umzäunter Garten
ein blaues Blümchen blüht
vor dem Zaun

auf dem gebeugten Grashalm
ein einziger Tropfen
der Himmel darin

Was fehlt? Ein Ich. Du schreibst nicht „Ich sehe ...“ oder „Ich höre ...“, sondern stellst das Beobachtete oder Gehörte direkt hin. Dabei ist nicht gesagt, dass du genau das gesehen hast, was im Haiku dargestellt wird. Du wirst manchmal nicht umhinkommen, Dinge zu frisieren, damit sie nachvollziehbar werden. Und du musst dich nicht auf das beschränken, was du tatsächlich wahrgenommen hast. Der Inhalt eines Haiku kann genauso gut aus einer Phantasie oder Traumszene bestehen. Er muss für die Leserin jedoch mit den Sinnen wahrzunehmen sein:

Großstadtmorgen
ein Tiger schläft
im Straßendreck

Wie die meisten der Beispiele zeigen, bringt die letzte Zeile oft eine überraschende Wendung. Das muss nicht so sein, aber ergibt sich meist ganz von selbst, weil dir Dinge auffallen, die etwas „merkwürdig“ sind:

Hähnchen auf Grillspießen
vor dem Verkaufsstand
picken zwei Tauben

Zwischendurch mal ein Haiku zu schreiben, ist eine Übung, die deine Kreativität auf Empfang hält. Eine Haiku-Idee kann durchaus die Keimzelle für ein etwas längeres Gedicht sein und sogar, falls die Reimmuskeln in Wallung kommen, für ein gereimtes.