Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

25 - Schweifreim

Komischer Name. Aber eine Chance, von den ewigen Vierzeilern mit ihren Paar- oder Kreuzreimen wegzukommen. Das Folgende ist die erste Strophe aus einem der bekanntesten deutschsprachigen Gedichte. Welches Reimschema siehst du?

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

(Aus: Matthias Claudius – Abendlied)

Die Reimendungen sind: -angen, -angen, -ar, -eiget, -eiget, -ar, das Reimschema folglich a a b c c b, und dieses Reimschema nennt man Schweifreim. Vielleicht wird es so genannt, weil die b-Reime wie ein Schwänzchen an den Paarreimen hängen, aber das ist nur meine inoffizielle Vermutung.

Wichtig: Die Paarreime sind verschieden (nur die Reimlänge ist gleich). In diesem berühmten Beispiel klingen die Reime ein bisschen ähnlich, weil alle mit a-Lauten in der Hebungssilbe ausgestattet sind. Das ist eine der seltenen gelungenen Ausnahmen vom Prinzip, die Vokale in den Reimhebungen möglichst zu variieren.

Der Schweifreim ist das meistgenutzte Reimschema bei sechszeiligen Strophen. Zu allermeist werden Satzbau und Inhalt in der Mitte geteilt, daher kann er auch gut für Dreizeiler genutzt werden:

Ein kleines Lied, wie geht’s nur an,
dass man so lieb es haben kann?
Was liegt darin? erzähle!

Es liegt darin ein wenig Klang,
ein wenig Wohllaut und Gesang
und eine ganze Seele.

(Marie von Ebner-Eschenbach – Ein kleines Lied)

Auch in diesem Gedicht gibt es viel a in den Reimen, aber zwei große Unterschiede zum vorigen Beispiel. Der Schweifreim in Zeile drei und sechs ist zweisilbig, im ersten Beispiel war er einsilbig. Letzteres ist der häufigere Fall, weil die Hebung am Schluss jeweils eine Endbetonung für die Zeilen drei und sechs ergibt, die meist einen Satzabschluss enthalten. Dass hier das Ende weicher mit einer Senkung ausklingt, passt inhaltlich.

Das zweite Unterscheidungsmerkmal ergibt sich beim Metrum. Matthias Claudius hat die seltene Variante gewählt, im Schlussvers einen jambischen Versfuß (sH) mehr zu verwenden als in den anderen Zeilen und dies tatsächlich in allen Strophen des Gedichts durchgehalten. Im zweiten Beispiel haben die Schweifreimzeilen beide einen Versfuß weniger. Die Paarreime metrisch gleich zu gestalten und in den Schweifreimen geringfügig abzuweichen, ist eine nicht selten gewählte Variante. Es spricht allerdings überhaupt nichts dagegen, alle Zeilen einer Schweifreimstrophe gleichartig zu bauen. Hier eine vorbildliche Version:

Grabe, Spaden, grabe,
Alles was ich habe,
Dank’ ich, Spaden, dir!
Reich' und arme Leute
Werden meine Beute,
Kommen einst zu mir!

(Aus: Christoph Heinrich Hölty – Totengräberlied)

Das nennt man einen dreihebigen Trochäus, und es ist wieder der einsilbige Schweifreim zugange. Diese Vorbildlichkeit und Regelmäßigkeit steht im Kontrast zum etwas schwarzhumorigen Inhalt. Glatte Form, strubbeliger Inhalt, das ist eine Möglichkeit, die du bei geeignetem Anlass wieder hervorholen solltest, nicht nur beim Schweifreim.

Im letzten Beispiel geht der Dichter einen ganz anderen Weg. Die Zeilenlängen sehen etwas unregelmäßig aus, auch im Verhältnis Satzbau zu Reimschema gibt es eine Abweichung vom Üblichen:

Ach, was wollt ihr trüben Sinnen
Doch beginnen!
Traurigsein hebt keine Not.
Es verzehret nur die Herzen,
Nicht die Schmerzen
Und ist ärger als der Tod.

Auf, o Seele! Du musst lernen,
Ohne Sternen,
Wenn das Wetter tobt und bricht,
Wenn der Nächte schwarze Decken
Uns erschrecken,
Dir zu sein dein eigen Licht.

(Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau – Ermahnung)

Zeile zwei und fünf in jeder Strophe haben nur zwei Hebungen, alle anderen haben vier. Das ist schon ziemlich ungewöhnlich. Würde ich als „Aufwecker“ interpretieren im Sinne des Inhalts. Der Haken bei solchen Ideen ist immer, das Merkmal auch in den Folgestrophen wiederholen zu müssen.

In der zweiten Strophe geht der Satzbau über alle Zeilen hinweg. Bisher waren die Strophen immer zweigeteilt entlang dem Schweifreim. Das ist also kein Gesetz, das nicht gebrochen werden kann. Wie immer sollte es dafür jedoch eine inhaltliche Grundlage geben.

Und wo ich gerade beim Satzbau bin: Schau dir noch mal alle Beispiele an. Wie sind die drei Zeilen aufgeteilt, die jeweils mit dem Schweifreim enden? Es gibt keine goldene Regel, wie man zum Schweifreim kommt, der ja ein bisschen Planung erfordert. Aber das ist auch ein Vorteil, denn du kannst deiner Kreativität freien Lauf lassen, bis dahin, wie im letzten Beispiel gesehen, den Schweifreim per Satzbau zu überrennen.

Als Übung, um ein bisschen näher bekannt zu werden mit dem geschweiften Typen, schlage ich vor, dass du mal wieder parodierst. Nimm dir einen der Texte aus diesem Kapitel und versuche, den Inhalt entlang von Satzbau und Schweifreimschema neu aufzurollen.