Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
23 - Ein barockes Gedicht
Eine Sammlung alter Gedichte zu lesen, hat viele Vorteile. Du siehst, was es alles schon gegeben hat, und das eine oder andere Gedicht könnte dich auf Ideen bringen für ein neues. Denn ob man ein Thema im 17., 18., 19. oder 21. Jahrhundert anpackt, sollte einen gewaltigen Unterschied machen. Und wenn du genauer hinschaust, lassen sich auch einige technische Feinheiten abgucken.
Sinnvoll ist es, im Barock anzufangen, also ab sechzehnhundertsoundso, weil sich erst ab dieser Epoche Dichter bewusst an Regeln gehalten haben, die immer noch Anwendung finden. Ihr Deutsch war etwas seltsam, aber auch im Original noch gut verständlich.
Es ist alles eitel
Du sihst / wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden.
Was dieser heute baut / reist jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn / wird eine Wiesen seyn /
Auff der ein Schäfers-Kind wird spielen mit den Herden.
Was itzund prächtig blüht / sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen Asch und Bein /
Nichts ist / das ewig sey / kein Erz / kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück vns an / bald donnern die Beschwerden.
Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit / der leichte Mensch bestehn?
Ach! was ist alles diß / was wir vor köstlich achten /
Als schlechte Nichtigkeit / als Schatten / Staub vnd Wind;
Als eine Wiesen-Blum / die man nicht wider find’t.
Noch will was ewig ist kein einig Mensch betrachten!
(Andreas Gryphius)
Dieses Gedicht wurde 1658 in einem Buch mit dem einfach zu merkenden Titel „Freuden vnd Trauer-Spiele auch Oden vnd Sonnette sampt Herr Peter Squentz Schimpff-Spiel.“ veröffentlicht. Neben den manchmal für unsere Augen etwas seltsamen Schreibweisen fallen die Schrägstriche auf, die ein Komma-Ersatz waren. Das wichtigste Wort des Gedichts steht im Titel: eitel. Es bedeutete zu jener Zeit auch: vergänglich. Und genau darum geht es in dem Gedicht.
Wenn du alte Gedichte liest, dann lies sie einfach erst mal nur so. Manche Gedichte werden dich ansprechen, manche nicht, und manche werden dir vielleicht besonders gut gefallen. Diesen Gedichten solltest du einen zweiten, eher analytischen Blick gönnen.
Die beste Art, ein Gedicht analytisch zu lesen, ist, es abzuschreiben. Das ist nicht ungefährlich, weil man beim Abschreiben einen Text sozusagen unters Mikroskop legt und Dinge entdeckt, die einem auch bei mehrfachem Lesen entgehen. Das kann dazu führen, dass dir ein Gedicht vielleicht nicht mehr so toll vorkommt, weil es doch irgendwelche Macken hat. Aber das ist eine doppelt gute Nachricht, denn erstens registrierst du überhaupt solche Macken und zweitens siehst du, dass die alten Meister auch nur mit Wasser gekocht haben.
Bei einem Gedicht wie diesem ist es am einfachsten, wenn du dir zuerst die Reime anschaust. Das Reimschema ist etwas seltsam. Kommen zuerst zwei umarmende Reime, dann ein Paarreim und dann noch ein umarmender Reim? Nö. Das Gedicht wurde in dieser sparsam-kompakten Form gedruckt, weil den gebildeten Lesern (Ungebildete konnten damals gar nicht lesen) klar war, dass dies ein Sonett ist, dessen Strophenmuster aus zwei Vierzeilern und zwei Dreizeilerm besteht. Das Reimschema der beiden Dreizeiler nennt man Schweifreim (den ich später noch ausführlich vorstellen werde). Das Muster ist: a a b c c b.
Weiterhin auffällig bei den Reimen sind die Verkürzungen „vergehn“ und „bestehn“ (ohne Apostroph!), aber „find’t“ mit Apostroph, weil eine Silbe geschleift wird. Letzteres finde ich eine etwas unelegante Lösung (siehe Wasserkocher).
Auch eine Beachtung wert in Reimgedichten sind die Vokale in den betonten Reimsilben. Der Laut „ai“ in den Schreibweisen „ei“ und „ey“ der ersten beiden Strophen wird am Schluss aufgelöst in ein reines a und ein reines i. Warum macht der Dichter das? So etwas wäre eine Frage der Interpretation, aber die ist nicht notwendig, obwohl du dir natürlich darüber Gedanken machen könntest. Für deine Zwecke reicht es, das als interessante Variante zu registrieren (im Sinne von technischen Feinheiten).
Damit zum Metrum: sechshebiger Jambus. Macht man heutzutage kaum, galt aber im Barock als Standard. Wobei auch damals schon klar war, dass sechs Hebungen zwar lang genug sind, um ganze Sätze aufzunehmen, aber auch ein bisschen langatmig sein können. Die bevorzugte Art, sechshebige jambische Verse zu bauen, war daher, eine mehr oder weniger lange Pause (Zäsur) nach der dritten Hebung zu platzieren. Besonders deutlich hier:
Was dieser heute baut / reist jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn / wird eine Wiesen seyn /
Tatsächlich hat dieser Vers (jambisch, sechs Hebungen, Pause nach der dritten) sogar seinen eigenen Namen: Alexandriner. Einige andere Verse in diesem Gedicht sind noch mehr zerrissen, etwa Vers sieben („Nichts ist ...“) oder Vers zwölf („Als schlechte Nichtigkeit ...“).
Wenn du ein Gedicht zumindest halblaut liest und versuchst, ein bisschen die Sprachmelodie des Textes nachzuvollziehen – was sehr zu empfehlen ist –, dann könntest du eventuell heraushören, dass diese Zäsuren in langen Zeilen das Tempo eines Gedichts verschärfen. So zumindest geht es mir bei solchen zerhackten Zeilen, das Gedicht wird hektischer. Und das ist nicht verkehrt zu wissen, wie du ein Gedicht nicht zu betulich werden lässt, oder andersherum: Was du vermeiden musst, damit ein sehr ruhiges Gedicht entsteht.
Eine gute Idee ist es, zu schauen, ob es nicht irgendwo Ausnahmen beim Metrum gibt, oder was eine Dichterin oder ein Dichter getan hat, um das Metrum hinzubiegen. Ich sehe unter diesen beiden Gesichtspunkten drei interessante Stellen im Gedicht. Bevor du weiterliest, schau selbst einmal.
In Zeile drei „stehn“, in der vorletzten „Wiesen-Blum“, die auch damals eigentlich eine Wiesenblume war, und … Trommelwirbel … eine Akzentverschiebung:
Ach! was ist alles diß / was wir vor köstlich achten /
So einen Ausruf, der eine Hebung sein muss, sieht man bei alten Gedichten ab und zu. Der Dichter macht das vorschriftsmäßig: „was“ ist wesentlich schwächer betont als das erste Wort, „ist“ noch schwächer, also zwei Senkungen, bevor dann bei „alles“ die erste Silbe eine Hebung sein muss. Es entsteht diese Senkungswanne: HssH, danach ist der Rest im Jambusstil gehalten.
Dieser Vers ist auch deshalb interessant, weil damit ein Gedankengang begonnen wird, der sich bis zum Schluss fortsetzt, aber: Eigentlich gehört diese Zeile noch zur dritten Strophe, denn am Schluss stehen zwei dreizeilige Strophen, weil das beim Sonett so Pflicht ist. Normalerweise versucht man, Strophen auch inhaltlich abzugrenzen, doch gemeint sind sie nur als rhythmische Abgrenzung, als ein Versprechen, dass sie immer gleich gebaut werden. Es ist also möglich, über Strophengrenzen hinweg Gedankengänge oder sogar Sätze fortzuführen. Wie immer sollte das keine Notlösung sein, sondern etwas, das dem Inhalt zugutekommt.
Die Gedichte des Barock, auch wenn sich von ihnen etwas lernen lässt, gelten heute als altbacken, was nicht nur an der Sprache liegt. Im Prinzip sind viele Gedichte dieser Zeit wie Reden oder Predigten aufgebaut, in denen immer wieder die gleichen Themen wie z.B. Vergänglichkeit bearbeitet wurden. Ziel war nicht, etwas Neues zu sagen, sondern Altbekanntes zu bestätigen. Die Gedichte hatten eine stabilisierende Funktion für die damalige Gesellschaft, Revolutionäre mussten draußen bleiben.
Der sympathische Zug jener Zeit ist, dass die Barocker glaubten, jeder kann lernen, Gedichte zu schreiben. Mit „jeder“ war allerdings nur die kleine Minderheit der des Lesens und Schreibens Kundigen gemeint. Es wurde ein hohes technisches und sprachliches Niveau angestrebt, also sollte sich aus den Gedichten jener Zeit etwas lernen lassen.
Ich habe das Gedicht jedoch nicht ausgesucht, weil es besonders toll ist, sondern weil es mir typisch für die Zeit erscheint. Du musst Gedichte, die du dir näher anschaust, auch nicht unbedingt mit der Lupe betrachten. Wenn du Gedichte abschreibst, dann schreib ein paar erste Anmerkungen dazu und lege das Ganze beiseite. Schaue nach Wochen oder Monaten wieder drauf, dann siehst du vielleicht neue Sachen oder du ziehst einige deiner bisherigen Anmerkungen in Zweifel. Gut wäre, wenn du dir nach und nach einen kleinen Vorrat an Gedichten anlegst, mit denen du dich auseinandersetzt in Sachen Gedichteschreiben. Das bringt dich weiter.
Lust, kreativ zu werden? Ich meine, dieses Barockgedicht schreit danach, sich mit dem Thema Zeit und Schnelllebigkeit zu beschäftigen, aber nicht als Predigt, sondern in Aktion. Denke zurück an „Zeigen und schweigen“. Die interessante Frage ist, wie bringst du die rasende Zeit, die Hektik des 21. Jahrhunderts nicht nur inhaltlich in ein Gedicht, sondern auch in der Gestalt des Textes zum Ausdruck?
Das Barockgedicht hat gezeigt, man kann lange Zeilen für mehr Tempo zerstückeln. Was ist, wenn du nur sehr kurze Zeilen schreibst oder zwischen kurzen und langen wechselst? Welche werden schnell oder langsam gelesen? Oder hängt das schlicht vom Inhalt oder Satzbau ab? Eventuell musst du deine Texte einige Zeit liegen lassen, bis die gedachte Sprachmelodie etwas in Vergessenheit geraten ist, um herauszufinden,in welchem Tempo die Texte gelesen werden. Probiere ein paar Dinge aus, muss sich auch nicht reimen, sondern nur: rasen.