Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
22 - Jambus spezial
Schau dir den folgenden Gedichtausschnitt an, genauer gesagt, schau dir das Metrum des folgenden Gedichtausschnitts an.
Mir schweift der Blick hinüber
In Weiten, dämmerfern;
Vom Himmel blinkt ein trüber
Einsamer Stern.
(Aus: Adolf Friedrich von Schack – titelloses Gedicht)
Die letzte Zeile ist verkürzt, zwei statt drei Hebungen, den Trick kennen wir schon, aber wie betont man eigentlich „einsamer“? Da „einsam“ auf der ersten Silbe betont wird, sehe ich keinen Grund, warum nicht auch „einsamer“ die Betonung ganz vorne hat. Doch was ist dann mit dem Jambus, der immer mit einer Senkung anfängt und in den ersten drei Zeilen genutzt wurde? Das Zauberwort heißt: Akzentverschiebung.
Eigentlich hätte das Hebungsschema der letzten beiden Zeilen so aussehen müssen:
sH sH sHs
sH sH
Tatsächlich sieht es so aus:
sH sH sHs
Hs sH
Der erste Versfuß (sH) wurde gedreht (Hs) und danach bleibt es beim Jambus. Das nennt man Akzentverschiebung, es entsteht sozusagen eine Betonungswanne bei den ersten beiden Versfüßen. Dieses Verfahren hat sich eingebürgert, es macht den Jambus flexibler, wenn nicht jede Zeile mit einer Senkung anfangen muss, und erlaubt besondere Hervorhebungen. In dem Beispiel wird „einsamer“ noch einsamer durch die unerwartete Betonung auf der ersten Silbe des Verses.
Wichtig ist, dass nicht das Metrum in der Zeile komplett umgeschmissen wird. Es muss diese zweisilbige Betonungslücke entstehen, also nicht:
Vom Himmel blinkt ein einsam
Trüber Stern.
Hier wäre das Hebungsschema der letzten Zeile: HsH, also ein zweihebiger Trochäus, dem die Schlusssenkung fehlt. Die wegzulassen ist metrumbehördlicherseits erlaubt. Der Wechsel zwischen jambischen und trochäischen Versen jedoch ist ein häufiger Fehler bei Leuten, die nicht wissen, wie Gedichte traditionell geschrieben wurden. Auf Neudeutsch ist das eine No-go-Area des Gedichteschreibens. Wenn du aber die Akzentverschiebung richtig anpackst, dann gehen z.B. auch zweisilbige Wörter am Anfang von jambischen Versen, die auf der ersten Silbe betont sind:
In Zagheit Mut! In Freiheit doch gefangen.
In Stummheit Sprache,
Schüchtern bei Tage,
Siegend mit zaghaftem Bangen.
(Aus: Karoline von Günderrode – Liebe)
Die ersten beiden Zeilen sind noch normal jambisch, die nächsten beiden haben den Anfangsdreher beim Versfuß. Das Hin und Her der paradoxen Aussagen wird so auch ins Metrum übertragen. Ein weiterer Anwendungsfall ist, wenn das erste Wort die ganze Zeile charakterisiert:
So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
(Aus: Matthias Claudius – Abendlied)
Würde man in der letzten Zeile die zweite Silbe nach Jambus-Art betonen, wäre das nur Klingel-Klangel. Nur durch die Betonung der ersten Silbe, der zwei flache Silben folgen, wird der Hauch eisig kalt.
Noch eine Steigerung ist das folgende Beispiel:
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
(Aus: Joseph von Eichendorff – Mondnacht)
Die zweite Zeile hebt so richtig ab, wenn man das erste Wort betont. Da aber „ihre“ auch eine Betonung in der ersten Silbe hat, wird diese hinuntergedrückt zu einer Senkung. Auch das ist möglich, gerade bei Wörtern wie Pronomen, die nicht so wahnsinnig auffällig sind.
Zum Schluss ein Beispiel von Goethe, der natürlich wieder übertreiben muss:
Doch frisch und fröhlich war mein Mut;
In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut!
Dich sah ich, und die milde Freude
Floss von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
(Aus: Johann Wolfgang von Goethe – Willkommen und Abschied)
Als Kontrast sind die drei klassisch-jambischen Vorzeilen mit aufgeführt, doch dann folgen drei Akzentverschiebungen hintereinander. Bei „Dich sah ich, und ...“ könnte man streiten, ob wirklich die erste oder doch die zweite Silbe betont werden muss. Tatsächlich ist es auch möglich zwei fast gleich starke Silben an den Anfang zu setzen, die Fachleute sagen: schwebende Betonung. Im Textzusammenhang (Das Ich erblickt seine Geliebte) wäre aber eher die erste Silbe betont.
Die zweite Akzentverschiebung ist interessant, weil sie einen gleitenden Übergang des Satzes durch das Verb am Versanfang ermöglicht. Hätte Goethe das Jambus-Schema stur durchhalten wollen, wäre er bei „sie floss vom süßen Blick auf mich“ gelandet, also mit Komma am Schluss der Vorzeile. Das wäre auch eine Möglichkeit gewesen, aber so flutscht es besser.
Die dritte Akzentverschiebung schließlich ist wieder die Charakterisierung einer ganzen Zeile.
Also: Du musst den Jambus nicht konsequent durchziehen, aber die Akzentverschiebung sollte auch nicht als Notnagel dienen (höchstens ausnahmsweise *Augezudrück*), sondern inhaltlich begründet etwas besonders hervorheben oder für Ungleichgewichte (Wackeln der Betonung) sorgen.
Kleine Übung: Beginne einen jambischen Vierzeiler mit der eingebauten Akzentverschiebung „Weihnachten ...“. Vielleicht fängt nur die erste Zeile so an, vielleicht die erste und die letzte, vielleicht alle vier, aber denke daran, es muss eine Hebungssilbe nach dem Wort Weihnachten folgen.