Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
21 - Vierzeiler
Ob Paarreim, Kreuzreim oder umarmender Reim, vierzeilige Strophen gehen immer. Wenn du dann noch ordentlich mit dem Metrum hantierst, reihst du dich ein in eine jahrhundertelange Tradition der Vierzeiligkeit. Ich hoffe, du hast den Bogen inzwischen raus mit dem Auf und Ab der Silben, wenn nicht, gebe nicht auf, probiere es weiter (z.B. mit Parodien). Denn gereimte Vierzeiler ohne Metrum folgen keiner Tradition, sie sind nur scheinbare Imitation.
Da jedoch alle und ihre Großmütter Vierzeiler schreiben, wäre es nicht verkehrt, diese ein bisschen kecker zu gestalten, brav sollen andere schreiben. Fangen wir mit einer Kleinigkeit an. Welche regelmäßige Unregelmäßigkeit ist in den folgenden Vierzeilern eingebaut?
Ich sehe oft um Mitternacht,
Wenn ich mein Werk getan
Und niemand mehr im Hause wacht,
Die Stern am Himmel an.
Sie gehn da, hin und her zerstreut
Als Lämmer auf der Flur;
In Rudeln auch, und aufgereiht
Wie Perlen an der Schnur.
(Aus: Matthias Claudius – Die Sternseherin Lise)
Die Reime sind nicht alle hundertprozentig sauber, aber das ist nicht die regelmäßige Unregelmäßigkeit. Die setzt beim Metrum an:
sHsHsHsH
sHsHsH
Die jeweils zweite Zeile ist um eine Hebung und eine Senkung (= ein Versfuß) gekürzt. Oft wird es auch so gemacht, dass bei den gekürzten Zeilen zweisilbige Reime stehen, also am Schluss noch eine Senkung, was dann dem typischen Reimlängenwechsel beim Kreuzreim entspricht. Es ergibt sich ein etwas abweichender Rhythmus von der vielleicht auf die Dauer langweiligen völligen Regelmäßigkeit. Doch der Leiergefahr entgehst du damit nicht, denn der stetige Wechsel zwischen langen und kurzen Zeilen hat seinen eigenen Leierfaktor. Um den zu vermeiden, muss der Unterschied schon extremer ausfallen:
Die Liebe hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel,
Und dringt durch alles sich;
Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel,
Und schlägt sie ewiglich.
(Matthias Claudius – Die Liebe)
Sechs zu drei Hebungen und dann noch zweisilbige Reime bei den langen Zeilen, einsilbige bei den kurzen. Wenn du genau hinguckst, siehst du, dass Matthias Claudius getrickst hat. Jeweils nach der dritten Hebung in den Langversen gibt es eine Pause (Zäsur), angezeigt durch ein Satzzeichen. Diese Teilung sorgt dafür, dass die langen Verse tatsächlich gar nicht so lang wirken.
Bisher waren immer Zeile eins und drei die längeren, ein ungewohnter Rhythmus ergibt sich, wenn es andersherum geht:
Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
(Aus: Friedrich Nietzsche – Vereinsamt)
Hier ist das Hebungsverhältnis zwei zu vier. Besonders interessant: Der Dichter verlässt sich nicht nur auf die unterschiedlichen Längen der Verse, um das Gedicht rhythmisch durchzuschütteln. In der ersten Strophe sind sowohl eine kurze wie auch eine lange Zeile noch mal unterbrochen, wobei der Satzbau über die Zeilengrenzen hinausgeht. Bei der zweiten Strophe bleibt der Lesefluss hingegen in den Zeilen ungestört. Die Erschütterungen des „du“ spiegeln sich auch im unregelmäßigen Rhythmus wider.
Etwas anders zu machen, ist also kein Selbstzweck. Ein auf Harmonie angelegtes Gedicht darf durchaus in einem gleichmäßigen Rhythmus verfasst sein, nur wenn’s nicht so harmonisch sein soll, dann hast du eben auch ganz andere Möglichkeiten, selbst in den etwas quadratischen Vierzeilern. Neben dem Wechsel zwischen kurzen und langen Zeilen gibt es noch eine andere Variante, mit einer Metrumabweichung Effekt zu erzielen: Die Verkürzung der letzten Zeile. Tatsächlich geht das mit allen Reimschemata – Paarreim, Kreuzreim, umarmender Reim.
Auf einem schwarzen Pferde
Reit ich von Stern zu Stern.
Die Sonne und die Erde
Sind fern.
(Aus: Klabund – Lied im Herbst)
Die letzte Zeile hat nur eine einzige Hebung („fern“). Durch die Verkürzung entsteht ein seltsam irritierender Effekt, weil die Ferne so kurzangebunden serviert wird.
Aus dem Walde tritt die Nacht,
Aus den Bäumen schleicht sie leise,
Schaut sich um in weitem Kreise,
Nun gib acht!
(Aus: Hermann von Gilm – Die Nacht)
Da der Dichter die Zeilen mit einer Hebung anfangen lässt, hat die letzte Zeile immerhin zwei Hebungen. Die ersten drei Zeilen lassen eigentlich ein eher romantisch-harmonisches Gedicht erwarten (gleicher Satzbau in den ersten zwei Zeilen, immer der gleiche Vokal am Anfang). Da schlägt der Warnruf der letzten Zeile dazwischen, wo dann ein anderer Vokal am Anfang steht.
Wenn ich geglaubt, dass ich gelangt zur Rast,
wenn ich gehofft, gewähnt, dass ich erfasst
die Harmonie des Weltgesanges schon –
war’s nur ein Ton!
(Aus: Hugo Oelbermann – Wenn ich geglaubt ...)
Hier wird die verkürzte Zeile als Pointe genutzt. Was bedeutet, dass auch die folgenden Strophen am Schluss etwas Überraschendes bieten müssen. Dadurch zeigt sich der Haken bei dieser Konstruktion: Das Gedicht muss im weiteren Verlauf inhaltlich die Verkürzung der Schlusszeile immer wieder mittragen. Es braucht wirklich die passende Idee dazu, sonst läuft der Effekt der Verkürzung ins Leere. Zum Schluss eine Vierzeilervariante ohne Metrumabweichungen. Das Vierzeilenschema wird durch die Reimstruktur unterlaufen.
Die Vögel spüren’s in den Schnabelspitzen,
da sie im Sonnenschein auf Wipfeln sitzen.
Sie zwitschern, trillern, rufen es hinunter:
Der Frühling, Frühling, Frühling kommt!
Der Mensch verdrängt sogleich des Winters Grauen,
die ersten Blicke suchen scheu nach Frauen,
jetzt fließen Säfte endlich wieder munter:
Der Frühling, Frühling, Frühling kommt!
Nur einer ist tatsächlich unzufrieden.
Dem Schneemann scheint sein End zu früh beschieden,
und unter seiner Rübennase brummt er:
Der Frühling, Frühling, Frühling kommt.
(Hans Retep – Der erste Frühling)
Die auffälligste Auffälligkeit ist zweifellos die Wiederholung der letzten Zeile. Das nennt man Refrain oder Kehrreim. Hinzu kommt in der dritten Zeile, dass der Reim strophenübergreifend gestaltet ist. Auch das hat seinen Spezialnamen: Korn. Die Strophen sind derart miteinander verwoben, dass ihre Vierzeiligkeit nebensächlich wird. Hier wären auch viele andere Korn- und/oder Kehrreim-Varianten denkbar, die Strophen miteinander verbinden, so dass der viel – und auch zu viel – geübte Vierzeiler gar nicht mehr zum Tragen kommt.
Hat irgendein Beispiel deine Aufmerksamkeit geweckt? Wunderbar. Dann probiere selbst, ein mehrstrophiges Gedicht mit einer dieser Varianten zu gestalten, oder denk dir deine eigene Vierzeilervariation aus. Als geeignetes Thema könnte ich mir „Streit“ vorstellen, das gewisse Ungleichgewichte oder Gegensätzlichkeiten schon impliziert, aber du kannst natürlich auch ein eigenes Thema wählen. Wichtig ist nur, dass die Strophenform zwar etwas strubbelig aussehen kann, aber immer auf gleiche Weise wiederholt wird.