Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
20 - Sei spontan!
Von den vielen krummen Aufforderungen, die man im Alltag so bekommt (Sei doch nicht so störrisch!), ist das die krummste. Denn spontan zu sein, verlangt nun mal, dies ohne Aufforderung zu tun.
Auch beim Schreiben von Gedichten gibt es oft ein Missverständnis mit der Spontanität. Ein Gedicht, das spontan ausgeworfen wirkt, muss nicht spontan geschrieben worden sein und eines, das spontan geschrieben wurde, muss nicht wie ein spontaner Text wirken. Ein Beispiel:
Ja bringt der Sommer nur noch Regen?
Ich hätt viel lieber Sonnenschein.
Die Pfützen stehn auf allen Wegen,
ja bringt der Sommer nur noch Regen?
Das Grünzeug hält’s wohl für ’nen Segen,
doch ich, ich möcht am liebsten schrein:
Ja bringt der Sommer nur noch Regen?
Ich hätt viel lieber Sonnenschein!
(Hans Retep – Sommerregenlied)
Das scheint der Gefühlsausbruch von jemandem nach vierzehn Tagen Regenwetter im Sommer zu sein. Der Text kommt ziemlich umgangssprachlich daher, auch die Wiederholungen ganzer Sätze sind typisch für einen spontanen Ausbruch. Die Reime sind nicht spektakulär und etwas seltsam verteilt, so dass auch hier keine Gestaltung, sondern Spontanität am Werk zu sein scheint. Doch in Wirklichkeit ist der Hintergrund kein verregneter Sommer, sondern ein ganz anderer. Woher weiß ich das? Der Dichter hat ein Dichtungsprotokoll geschrieben:
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In einer Liebesgedichtesammlung finde ich ein Gedicht von Friedrich von Hagedorn mit einer seltsamen Versstruktur. Ich weiß, sie hat einen Namen, aber ich komm nicht drauf. Internet angeworfen, und siehe da: Eine Website nutzt genau jenes Hagedorn-Gedicht als Beispiel für ein Triolett. In diesem Achtzeiler werden die beiden ersten Verse am Schluss wiederholt und der erste Vers taucht als vierter noch mal auf. Dadurch wird der angetäuschte Kreuzreim zu abaaabab verunstaltet. Ein Trioreim schiebt sich durch die Wiederholung des ersten Verses als Nummer vier dazwischen.
Auf der Website wird auch behauptet, das Triolett eigne sich besonders fürs Tändelnde oder Naive. Naiv bin ich selber, also: Blick aus dem Fenster und los geht’s. Die ersten beiden Verse stellen sich ein, womit dann nur noch Vers drei, fünf und sechs fehlen. Beim dritten hakt es schon und auch die ersten beiden sind auf den zweiten Blick etwas schlapp. Ich lasse das Gedicht liegen, mache etwas anderes. Eine halbe Stunde später meldet der Kopf an alle angeschlossenen Stationen: Es geht weiter von vorn.
Tatsächlich haben die ersten beiden Verse nun mehr Pep, und der Rest kommt nach und nach. Ich überlege, ob ich nicht einige „Ausstanzungen“ vermeiden soll, z.B. im zweiten Vers: Ich hätte lieber Sonnenschein. Doch das ist keine Verbesserung. Korrekt ist in diesem Fall nicht gut genug.
Fehlt noch der Titel. Der fünfte Kandidat geht schließlich durchs Ziel. Bleibt die Frage: Wie halte ich es mit den Auslassungszeichen? Auch da möchte ich dem Charakter der Rede Rechnung tragen, indem ich so wenige wie möglich setze. Die starke Orientierung an der Umgangssprache soll gar nicht erst den Verdacht aufkommen lassen, dass hier eine alte Form reaktiviert wurde. Stattdessen soll die Form so wirken, als ob sie sich ganz zwanglos aus dem Inhalt ergeben hätte.
Zum Schluss noch das Wichtigste, etwas, das man nie beim Schreiben von Gedichten fürs Internet vergessen darf: Bevor ich den Text online stelle, schlaf ich eine Nacht drüber.
…
Nacht drüber geschlafen. Mir ist noch eine Variation auf den fünften Vers eingefallen: Das Grünzeug sieht es wohl als Segen. Aber ich meine, zu „Grünzeug“ passt „Slang“ am besten. Also bleibt es dabei; Gedicht kann online gehen.
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Was wie ein spontan ausgegossener Text klingt, ist im richtigen Dichterleben eine formale Übung! Das Beispiel soll demonstrieren, dass es beim Thema Spontanität nur auf die Wirkung bei den Leserinnen ankommt. Das bedeutet für die Praxis:
Es ist wunderbar, wenn ein Gedicht in einem Zug gelingt, aber selten. Jedes Gedicht verdient einen zweiten Blick, ein Nachdenken (das nicht immer bewusst passieren muss) über den Text. Ihn zu ändern, nimmt nichts von seinem spontanen Eindruck. Trotzdem ist es eine gute Idee, „das Original“ aufzubewahren. So kannst du Erst- und Schlussfassung immer vergleichen und sehen, um wie viel besser ein Gedicht geworden ist oder gegebenenfalls merken, dass eine Verbesserung vielleicht gar keine war.
„Sei spontan!“ ist ein Paradox, das bei Dichterinnen tatsächlich passt, denn Spontanität bei Gedichten ist nicht wirklich spontan, sondern von langer Hand vorbereitet.