Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
19 - Umarmender Reim
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Das schnuppert nach Kreuzreim, nicht wahr? Doch hier wird noch einer draufgelegt:
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
(Aus: Jakob van Hoddis – Weltende)
Der umarmende Reim umarmt einen Paarreim, nett von ihm, man sagt auf reimschematisch: a b b a. Im Gegensatz zu Paar- und Kreuzreim besteht bei dieser Reimform keine Leiergefahr. Dafür ist sie nicht so intuitiv zu konstruieren, weil zwei Zeilen zwischen dem umarmenden Reim liegen.
In diesem Gedichtausschnitt enthält jede Zeile einen Hauptsatz. Das ist die einfachste Möglichkeit, zum umarmenden Reim zu kommen. Im folgenden Gedicht werden die Sätze auf zwei Zeilen ausgeweitet und bei den Reimen gibt es eine Variation.
Gleich einem König, der in seine Staaten
Zurück als Sieger kehrt, empfängt ein Jubel dich!
Der Knabe balgt um deine Flocken sich
Wie bei der Krönung um Dukaten.
(Aus: Leopold Friedrich Günther von Goeckingk – Als der erste Schnee fiel)
Reime zuerst: Beim allerersten Beispiel waren durchgängig einsilbige Reime zu sehen, hier wechselt der Dichter zwischen zwei- und einsilbigen, wobei – selbstverständlich – die Art der Anordnung in jeder Strophe gleich bleibt. (Nebenbei bemerkt: Paar- und umarmender Reim haben in der betonten Silbe unterschiedliche Vokale, also keine Reimträgheit.)
Es wird die für Paar- und Kreuzreime typische Zweisatzkonstruktion genutzt. Eigentlich kitzelt diese ein bisschen das Reimschema, weil der Satz mitten im Paarreim endet. Es bietet sich eher an, die erste Zeile als eigenständigen Satz zu präsentieren und dann z.B. einen Satz über drei Zeilen hinweg bis zur Komplettierung des umarmenden Reims zu bauen. Während bei Paar- und Kreuzreim die Gefahr besteht, dass die Reime zu sehr dominieren, kann es beim umarmenden Reim eher dazu kommen, dass der Schlussreim etwas in der Luft hängt. In diesem Beispiel wird das dadurch begünstigt, dass der erste Reimpartner durch die Fortführung des Satzes in die nächste Zeile eher beiläufig wirkt.
Im nächsten Gedicht ist der sich wiederholende Reimbogen von Zeile eins zu vier besser gelöst, doch schaue vor allem auf den Satzbau:
Wer wusste je das Leben recht zu fassen,
Wer hat die Hälfte nicht davon verloren
Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren,
In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?
Ja, der sogar, der ruhig und gelassen,
Mit dem Bewusstsein, was er soll, geboren,
Frühzeitig einen Lebensgang erkoren,
Muss vor des Lebens Widerspruch erblassen.
(Aus: August von Platen – titelloses Gedicht)
Wieder Reime zuerst: Diesmal ausschließlich zweisilbige Reime, was also auch geht, und die Reimendungen wiederholen sich. Das ist typisch für die beiden Vierzeiler in einem Sonett (das wesentlich später noch behandelt wird). Eigentlich könnte das Reimschema auch so geschrieben werden: a bb aa bb a. Die Wiederholung der Endungen führt dazu, dass über die Strophengrenze hinweg drei Paarreime hintereinander auftreten.
Beim Satzbau steht in Strophe eins die erste Zeile etwas allein, obwohl nicht durch einen Punkt abgetrennt, danach geht der Satz durch. In der zweiten Strophe gibt es einen kompletten Satz über alle vier Zeilen. Es scheint besser für den Schlussreim zu sein, wenn der Satzbau über mehrere Zeilen auf das letzte Wort zuläuft, sozusagen mit Anlauf bis in den Reim springt.
Mit dem Zahnweh voller Schmerz und Wut
Sitze ich und zähl die Küchenschaben,
Die ihr tägliches Versteck verlassen haben,
Und ich merk genau, was jede tut.
(Aus: Guido Zernatto – Zahnweh)
Hier wird die letzte Zeile etwas isoliert, eigentlich wäre am Schluss von Zeile drei ein Punkt möglich. Auch dieses Neuansetzen in der letzten Zeile hilft, das Schlussreimwort hervorzuheben. Das wird noch unterstützt durch den Wechsel von ein- zu zweisilbigen Reimen, so dass am Ende eine Hebung steht.
Der umarmende Reim ist eine Einladung, jenseits der „alten Leier“ von Paar- und Kreuzreimen zu denken. Er hat Platz für verschiedene Arten von Satzbauten und ist auch bei der Frage der Reimlängen flexibel. Kurz gesagt, er schreit danach, ausprobiert zu werden. Mein Vorschlag:
Schreibe vier Vierzeiler über die Zahlen eins bis vier. Das können philosophische Betrachtungen über diese Zahlen sein oder schlicht ein bisschen Unsinn. Auch denkbar wäre, die Zahlen als Zensuren zu denken oder als Uhrzeiten oder als erster bis vierter Tag der Woche oder erster bis vierter Monat des Jahres, oder was auch immer dir einfällt. Du solltest jeden Vierzeiler als eigenständiges Gedicht behandeln, so dass du von Gedicht zu Gedicht variieren kannst bei Metrum und Reimsilbenlängen.
Doch eine Bedingung gibt es: Probiere die verschiedenen Satzbauten aus, also zur Zahl Eins jede Zeile ein Satz, zur Zahl Zwei zwei Sätze über je zwei Zeilen, zur Zahl Drei eine Konstruktion bei der einer der beiden Sätze über drei Zeilen geht, und schließlich bei der Vier ein Vierzeilensatz. Es könnte sein, dass die letzten beiden Bedingungen leichter zu erfüllen sind, wenn du recht kurze Zeilen baust. Na dann: Fröhliches Umarmen.