Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

18 - Die poetischen Apostrophe

Es gibt eine apostrophische Seltsamkeit: Wenn in einer Kurzgeschichte oder in einem Roman verstärkt Apostrophe (vor allem in direkter Rede) auftauchen, dann ergibt das einen eher umgangssprachlichen Ton. In der Lyrik kann dieser Ton auch Ziel von Apostrophen sein, muss aber nicht, denn das Ausstanzen von schwachen e- oder i-Lauten ist oft Metrum oder Reim geschuldet und eine akzeptierte Möglichkeit im Gedicht:

Er ist’s

Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte.
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
– Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!

(Eduard Mörike)

Vorweggesagt: Das ist ein absolut seltener Fall, wenn sich ein Vers – wie hier der vorletzte – auf den Titel reimt. Mörike hätte auch „Er ist es“ und „du bist es“ schreiben können, weil dieses Zusammenziehen der beiden Wörter etwas zischend klingt. Doch ihm war wohl wichtiger, dass ein einsilbiger Reim entsteht, also am Versende eine Hebung zu platzieren. Das Ausstanzen des e beim Wörtchen „es“ führt dazu, ihm mangels Vokal die Silbeneigenschaft zu klauen. Eine Silbe einzusparen, erleichtert die Arbeit mit dem Metrum.

Etwas heimlicher wurde im letzten Vers dem hochsprachlichen „habe“ das Schluss-e gestrichen. In solchen Fällen, wenn es zwei gleichberechtigte Möglichkeiten gibt (oft bei der Ich-Form), sind Apostrophe überflüssig. Tatsächlich haben Dichter, die nun wirklich nicht im Verdacht stehen, Sprachverhunzer zu sein, sogar innerhalb von Wörtern keine Apostrophe gesetzt. Siehe Rilke Zeile zwei:

Die Nacht holt heimlich durch des Vorhangs Falten
aus deinem Haar vergessnen Sonnenschein.
Schau, ich will nichts, als deine Hände halten
und still und gut und voller Frieden sein.

(Aus: Rainer Maria Rilke – titelloses Gedicht)

Siehe von Hofmannsthal im Reim:

Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.

(Aus: Hugo von Hofmannsthal – Vorfrühling)

Im Prinzip ist das Setzen oder Nichtsetzen von Apostrophen Geschmackssache. Der Gedanke dahinter, Apostrophe wegzulassen, ist wohl der, dass die Ausstanzung eines Vokals klanglich-rhythmisch bedingt ist, von daher die Apostroph-Lücken eher störend wirken, zumal bei einem e, das sowieso nur eine ziemlich verschluckte Existenz vorweisen kann.

Anders liegt der Fall bei diesem Gedichtausschnitt in der zweiten Strophe:

Auf dem dünnen Glase stand ich da,
Das die schwarze Tiefe von mir schied;
Dicht ich unter meinen Füßen sah
Ihre weiße Schönheit Glied um Glied.

Mit ersticktem Jammer tastet’ sie
An der harten Decke her und hin.
Ich vergess das dunkle Antlitz nie,
Immer, immer liegt es mir im Sinn!

(Aus: Gottfried Keller – Winternacht )

In der fünften Zeile zu apostrophieren, hat die wichtige Funktion, anzuzeigen, dass hier die Vergangenheitsform „tastete“ gemeint ist, nicht das Präsens „tastet“. Ohne Apostroph wiederum bleibt die Form „vergess“ statt „vergesse“. Die Formen werden als gleichwertig betrachtet, nur wenn du das sehr oft in einem Textabschnitt machst, dann könnte er einen umgangssprachlichen Anstrich bekommen. Und wo wir gerade bei Umgangssprache sind: Ein Apostroph sollte immer gesetzt werden, wenn die Lücke ’ne ganze Silbe ist.

Auch beim Wörtchen „es“, das mit anderen Wörtern zusammengezogen wird, ist das Setzen eines Apostrophs im Gedicht üblich. Der nächste Gedichtausschnitt zeigt diesen Fall, aber auch etwas ganz Anderes:

Still und einsam schwingt er die Flügel,
Tauchet in den Wasserspiegel,
Hebt den Hals empor und lauscht;
Taucht zum andern Male nieder,
Richtet sich auf und lauschet wieder,
Wie’s im flüsternden Schilfe rauscht.

(Aus: Gottfried Keller – Stiller Augenblick)

Ist dir aufgefallen, dass Keller einmal „Tauchet“ und dann „Taucht“, einmal „lauscht“ und dann „lauschet“ geschrieben hat? Dann hast du analytisch gelesen! Auch das Verlängern von Wörtern in Richtung eines altertümlichen Klangs (etwa „Schilfe“, oder ein Eichendorff-Titel: „Im Walde“) ist ein Verfahren, das in älteren Gedichten immer wieder vorkommt.

Die „-et“-Form war schon zu Kellers Zeiten veraltet und eigentlich nur noch in Gedichten akzeptiert. Trotzdem vermute ich, dass die Dichterkollegen etwas mit der Stirn gerunzelt haben, als in der Strophe zwei verschiedene Formen eines Verbs vorkamen. Heutzutage wäre das nur noch ein Stilmittel, um ein Gedicht bewusst auf alt zu trimmen, aber eigentlich ist es besser, die Finger von solchen künstlichen, verstaubten Verlängerungen zu lassen.

Beim Ausstanzen vom kurzen e oder i innerhalb von Wörtern sieht die Lage etwas freundlicher aus. Im Prinzip gibt es keine Regeln, wann das Vokalunterdrücken zu tun oder zu unterlassen ist, aber: Dieses Silbenkürzen ist eine ziemlich bequeme Möglichkeit, mit dem Metrum zu hantieren und kann schnell zu einer „poetischen Angewohnheit“ werden, obwohl an Apostrophen nichts Poetisches ist. Der Titel dieses Kapitels war ironisch gemeint. Deshalb würde ich am Anfang empfehlen: Je weniger, desto besser. Suche in jedem Einzelfall (wenn nicht wirklich ein eher locker-flockiger Tonfall angestrebt ist) eine gute Alternative und entscheide dich dann bewusst mit Blick auf das gesamte Gedicht für eine Version. Später, mit mehr Sprachgefühl, als Veteranin in Sachen Metrum und Reim kannst du dir intuitiv eher die bequeme Lösung erlauben.