Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

16 - im Zweiertakt

Wie sieht es beim Metrum inzwischen bei dir aus? Falls du noch nicht sattelfest bist und mit alten Gedichten per Parodie üben möchtest, hier ein Geheimtipp, um das Metrum zu bestimmen: Ist ein Gedicht gereimt, dann fange mit dem Reim an. Ein einsilbiger Reim muss eine Hebung sein, beim zweisilbigen ist die vorletzte Silbe eine Hebung, die letzte eine Senkung. Da mehr als drei Viertel der älteren Gedichte den einfachen Wechsel zwischen Hebung und Senkung im Zweiertakt nutzen, kannst du mit guten Erfolgschancen von hinten nach vorne das Metrumschema vervollständigen und hast dann die perfekte Vorlage für eine Parodie.

Wie auch immer du das machst, versuche bei den folgenden Gedichten das Metrum nachzuvollziehen.

Nacht ist wie ein stilles Meer,
Lust und Leid und Liebesklagen
Kommen so verworren her
In dem linden Wellenschlagen.

(Aus: Joseph von Eichendorff – Die Nachtblume)

So oft ich dieses Gässlein gehe,
Wohl später noch als Mitternacht,
Hält dort in respektabler Höhe
Ein eifersüchtig’ Lämpchen Wacht.

(Aus: Franz von Dingelstedt – titelloses Gedicht)

Beim ersten Gedicht ergibt sich HsHsHsH(s), beim zweiten sHsHsHsH(s). Gemeinsam sind den Gedichten vier Hebungen pro Vers und der Wechsel zwischen Senkung und Hebung am Schluss der Verse, wenn auch in unterschiedlicher Reihenfolge. Die kleine große Differenz ist: Im zweiten Gedicht steht immer eine Senkung am Anfang, im ersten immer eine Hebung. Willkommen in der Welt von Jambus und Trochäus.

Beim ersten Gedicht könnte man sagen, es beginnt mit einer Hebung und dann folgen Senkung und Hebung im Wechsel, insgesamt hat der Vers vier Hebungen. Man sagt aber: vierhebiger Trochäus. Beim zweiten Gedicht das gleiche Spiel: Statt zu sagen, die Verse beginnen mit einer Senkung und dann folgen Hebung und Senkung im Wechsel bei insgesamt vier Hebungen, nimmt man die Abkürzung: vierhebiger Jambus.

Mit Begriffen wie Trochäus und Jambus herumzuwerfen, ist also reine Mundfaulheit. Als des Esels Brücke könntest du dir merken: JambUs fängt unten an (Senkung-Hebung – sH), TrOchäus fängt oben an (Hebung-Senkung – Hs). Doch ob du dir diese Begriffe als Abkürzungen merken willst oder nicht, es bleibt eine etwas ketzerische Frage: Wen kümmert’s? Macht das irgendetwas aus, ob ein Vers mit einer Senkung oder Hebung anfängt, also jambisch oder trochäisch ist, wenn doch die Zahl der Hebungen gleich bleibt? Es macht.

Zunächst mal rein mathematisch betrachtet: Jambische Verse haben grundsätzlich eine Silbe mehr bei gleicher Hebungszahl. In den obigen Gedichten hatte der Jambus-Vers mit Hebungsende acht Silben, der Trochäus-Vers sieben. Beim Senkungsende waren es neun zu acht. Das mag keine große Sache sein, doch wenn du eine Gedichtidee in Verse pressen willst, kann das den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Drama! Hinzu kommt: Der Jambus-Anfang mit Senkungssilbe entspricht eher dem ganz normalen Satzbau, wo oft ein Artikel am Anfang steht („Der Mond ist aufgegangen, / Die goldnen Sternlein prangen ...“). Beim Trochäus muss jede Zeile kräftiger (mit einer Hebung) anfangen, daher landen oft Verben am Zeilenbeginn:

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

(Joseph von Eichendorff – Wünschelrute)

Die beiden Verben als Hebungen am Zeilenanfang sind ziemlich überzeugend, bei den Anfangshebungen der mittleren Zeilen musst du schon genau hinhören oder einfach annehmen, dass das Metrum der ersten Zeile auf die anderen übertragen wird.

Ein weiterer Unterschied zwischen jambischen und trochäischen Versen ist das Gedrängel der Hebungen. Wenn du bei den obigen Gedichten durchzählst, kommen bei den Jambus-Versen sechzehn Hebungen auf vierunddreißig Silben, beim Trochäus-Beispiel sind es sechzehn Hebungen auf dreißig Silben. Die Hebungen sind in der Mehrheit!

Obwohl das mit Sicherheit Auswirkungen auf den Klang eines Gedichtes hat, wäre es doch verkehrt zu sagen, dass Jambus oder Trochäus einen bestimmten Klang eingebaut haben oder für bestimmte Gedichtarten besonders geeignet sind. Das einzige, was ich zugeben würde: Trochäische Verse sind etwas extremer in ihrer Bandbreite von leise plätschernd bis rauschend intensiv. Wenn du ein klanglich intensives Gedicht bauen willst, ist wahrscheinlich der Trochäus besser geeignet, aber es gibt auch viele weitere Möglichkeiten, Klangintensität herzustellen, Wortwiederholungen z.B. oder parallele Satzbauten.

Wie entscheidet sich nun, welche Versart man nutzt? Ich muss zugeben, es gibt da selten eine bewusste Entscheidung. Zumeist ist es schlicht so, dass die Idee für einen Gedichtanfang vorgibt, ob ein Jambus oder Trochäus genutzt wird, was du dann selbstverständlich für das ganze Gedicht durchziehen musst. Stellt sich im weiteren Verlauf heraus, dass das Metrum nicht passt, kannst du zunächst versuchen, Zeilen um einen Zweiertakt zu verlängern oder zu kürzen. Ersteres ist nicht ungefährlich, weil Füllwörtergefahr. Die anspruchsvollere Alternative ist, du wechselst komplett von Trochäus zu Jambus oder andersherum und hast entweder die eine Silbe mehr oder weniger zur Verfügung.

Herausforderung: Versuche, bei den ersten zwei Gedichtausschnitten dieses Kapitels aus dem Trochäus-Beispiel einen Jambus zu machen und vom Jambus-Beispiel zum Trochäus zu wechseln. Niemand sagt, dass das einfach ist, ohne die Strophen zu ruinieren, aber es ist eine Erfahrung, die du mal machen solltest. Der „Kampf“ um jede einzelne Silbe gehört manchmal dazu und wird mit der Zeit immer leichter, weil du immer flexibler wirst.