Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

15 - Titel: mit oder ohne?

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

(Aus einem Gedicht von Heinrich Heine)

Ursprünglich hatte dieses Gedicht keinen Titel, und ich meine, das war in diesem Fall auch richtig so, denn die Leserinnen und Leser wussten somit noch nicht, wohin die Reise geht. Später setzte Heine den Titel „Lorelei“ hinzu, womit er gleich anzeigte, welches „Märchen aus alten Zeiten“ gemeint war. Das Thema festzulegen, das ist eine Aufgabe, die ein Titel haben kann, aber es gibt keinen Zwang, vorab zu verraten, worum es geht.

Ein Gedicht muss keinen Titel haben. Für die Zwecke eines Inhaltsverzeichnisses reicht es, wenn man die erste Zeile nimmt und dann drei (Auslassungs-)Punkte dahintersetzt. Ich habe keine Statistik parat, doch ich würde schätzen, dass ein Anteil im niedrigen zweistelligen Prozentbereich der in den letzten Jahrhunderten veröffentlichten Gedichte keinen Titel hat.

Wenn du einen Titel setzen willst, lautet die gute Nachricht: Es gibt dafür keine Regeln, also Kreativität geht vor. Aber das ist gleichzeitig ein Problem, denn der Möglichkeiten sind viele, wie soll man sich da entscheiden? Dazu hätte ich anzubieten, wie sich Dichterinnen und Dichter in der Vergangenheit entschieden haben, und da ergibt sich: So wahnsinnig wichtig ist ein Titel nicht, was dich natürlich nicht davon abhalten sollte, ihn wichtig zu nehmen.

Die beliebteste Art der Titelsetzung besteht tatsächlich nur aus einem Wort, allermeist ein Substantiv, eventuell gibt es noch einen Artikel (bestimmter oder unbestimmter) dazu, fertig ist der Titel. Es wird folglich nur das Thema gesetzt, den Rest muss das Gedicht selbst erledigen. Die beliebtesten Titel sind nach meinen Erhebungen: Weihnachten (auch: Weihnacht), Abschied, Herbst, Sehnsucht, Frühling.

Mehr als vier Wörter werden selten für einen Titel verwendet, aber klar ist: Je spezifischer der Titel, desto eher die Chance, Leserinnen neugierig zu machen. Dabei muss ein Titel nicht immer „wahr“ sein, er kann auch ironisch gesetzt werden, wenn z.B. ein Gedicht mit dem Titel „Schönheit der Natur“ im Text ihre Grausamkeiten zeigt.

Eine weitere Funktion des Titels ist, eine Information anzubringen, die im Gedichttext dann nicht mehr explizit erwähnt werden muss. Es gibt beispielsweise ein berühmtes Gedicht von Eichendorff, das Mondnacht betitelt ist. Der Mond taucht in dem Gedicht selbst jedoch überhaupt nicht mehr auf. Er scheint sozusagen vom Titel aus durch die Nacht.

Auch eine zeitliche („Sonntag“, „Nacht“) oder örtliche Festlegung („Berlin“, „Dorfstraße“) im Titel erleichtert die Zuordnung des Inhalts oder setzt die Szene, denn ob ein Ereignis in einem Sommer- oder Winterwald beschrieben wird, macht einen großen Unterschied.

Wenn du mit einem Titel auffallen willst, ist überbordende Länge eine Möglichkeit. Als Grundregel kann gelten: Je extravaganter das Gedicht, desto extravaganter darf der Titel sein.

Es gibt eigentlich nur eine Falle bei Titeln: Da sie in der Regel extrem kurz sind, kann es passieren, dass ein gewählter Titel schon für ein anderes Gedicht existiert. Das macht bei einem Allerweltstitel wie „Frühling“ oder „Weihnachten“ oder einem relativ unbekannten Vorgänger nichts aus. Wenn der Titel jedoch etwas konkreter wird und ein berühmtes Gedicht schon so betitelt wurde, wie z.B. Mondnacht oder Abendlied oder Weltende, dann steht ein Gedicht plötzlich in Konkurrenz zu Klassikern der Branche. Was du dir wiederum zunutze machen kannst, indem du auf einen Klassiker anspielst: „Modernes Abendlied“ oder „Wieder ein Weltende“ wären Kandidaten. Sich ein bisschen auszukennen in der Lyrik der Vergangenheit, kann also für einen Titel von Vorteil sein, um nicht unbeabsichtigt mit dem Schatten eines bekannten Gedichts kämpfen zu müssen, sondern sich stattdessen auf die Schulter eines Riesen zu stellen.

Zum Schluss ein Geheimtipp: Ab und zu – nicht zu oft! – ist es eine interessante Titelidee, ein Wort oder eine Formulierung zu nehmen, die im Gedicht selbst ganz am Schluss auftaucht. Das ergibt eine Art Wiedererkennungseffekt und ist besonders dann reizvoll, wenn nicht von Anfang an klar ist, worauf das Gedicht hinausläuft. Aber: Psst, streng geheim.

Als kleine Titelübung schlage ich vor: Nimm dir ein paar berühmte Gedichte und versuche, alternative Titel zu finden. Du kannst probieren, Titel zu verknappen oder auszuwalzen. Das können realistische Alternativen sein, aber auch Versuche, falsche Erwartungen zu wecken. Und vielleicht findest du ja dabei Titel, zu denen du unbedingt Gedichte schreiben möchtest.