Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

14 - Besser reimen

Jedes Kind kann schreiben, jedes Kind kann reimen, was aber ist zu tun, um sich von schreibreimenden Kindern abzuheben, Qualität statt Quantität abzuliefern? Es gibt ein paar Punkte beim Reimen, die über jene bereits vorgestellten Grundregeln hinaus ein bisschen Aufmerksamkeit verdienen, z.B.:

Reimträgheit

Schau dir folgende Reimerei an. Fällt dir etwas auf?

… störte
… gekracht
… hörte
… aufgebracht

… fanden
… gedacht
… versanden
… acht

Das ist ein typischer Kreuzreim, ein- und zweisilbige Reime im Wechsel. Was nicht typisch ist und auch nicht passieren sollte: In der zweiten Strophe wird der einsilbige Reim auf -acht fortgeführt. So etwas geschieht oft unabsichtlich. Der Klang des Reims hat sich sozusagen im Ohr festgebissen, es gibt relativ viele, einfach zu findende Reimwörter dazu, und schon wird mit der gleichen Silbenendung weitergereimt. Das nenne ich Reimträgheit. Es kann Gründe dafür geben, einen Reim fortzuführen, das sollte aber eine bewusste Entscheidung sein, die ihren Grund in der inhaltlichen oder gestalterischen Machart des Gedichts hat.

Es gibt noch eine Auffälligkeit: In der ersten Strophe wechseln die Vokale der betonten Silben (ö zu a), in der zweiten nicht. Auch das kann ein Fall von Reimträgheit sein, ein Laut bleibt im Ohr hängen und wird weiter durchgeschleppt. Das Grundprinzip sollte sein, bei den Vokalen der betonten Silben möglichst zu variieren, aber: Du kannst damit auch Verbindungen oder Stimmungen schaffen, wenn du gleiche Vokale nutzt. Hier ein Beispiel aus der Romantik:

Es zog eine Hochzeit den Berg entlang,
Ich hörte die Vögel schlagen,
Da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang,
Das war ein lustiges Jagen!

Und eh ich’s gedacht, war alles verhallt,
Die Nacht bedecket die Runde,
Nur von den Bergen noch rauschet der Wald
Und mich schauert im Herzensgrunde.

(Joseph von Eichendorff – Im Walde)

Gerade der Vokal a wird als besonders wohlklingend empfunden, wenn nicht der Wortgebrauch dagegen spricht (Gewalt, Attentat, Aas). Eichendorff nutzt diesen Wohlklang ausgiebig in der ersten Strophe für eine Wohlfühlstimmung und nimmt das a sogar in der zweiten Strophe noch mal auf. Das betonte u im Schlussreim wird dadurch besonders hervorgehoben. Kurz gesagt: Er hat sich den wiederholten Gebrauch des a mit Sicherheit wohl überlegt, und das ist auch die Botschaft zum Stichwort Reimträgheit: Reimendungen zu wiederholen, braucht sehr gute Gründe, Reimvokale zu wiederholen, braucht zumindest bewusste Entscheidungen. Du darfst also die Leserinnen mit Reimen einlullen, aber nicht dich selbst.

Leiern

Frage: Welche Wörter oder Silben sind im folgenden Gedichtausschnitt Kandidaten für die jeweils kräftigste Betonung im Vers?

Ich weiß nicht, was soll ich dir schenken,
da du schon so viel hast.
Ich weiß nur, ich will dich nicht kränken,
zu gern bin ich dein Gast.

Und wie ich vertieft in Gedanken,
da kommt mir die Idee!
Du musst dich auch gar nicht bedanken,
weil ich die Freude seh.

(Aus: Hans Retep – Ich schenk dir was)

Mit Ausnahme vielleicht der letzten Zeile ist eigentlich immer das Reimwort ein Kandidat. In Zeile zwei könnte man auch das „so“ besonders betonen, in Zeile vier wäre „gern“ ein weiterer Kandidat, doch im Prinzip könnte eine Leserin das jeweils letzte Wort in allen Zeilen mit Schmackes lesen.

Es gibt zwei Gründe, die dafür sorgen, dass die Reimwörter besonders auffallen. Zum einen ist jede Zeile ein vollständiger Haupt- oder Nebensatz (Zeilenstil), und zum anderen ist das Reimwort meist auch das einzige zweisilbige Wort im Vers. Und wenn du dann noch diesen Wechsel zwischen Lang- und Kurzzeilen hinzunimmst, stellt sich langsam, aber sicher ein Leiern ein. Das ist hier gewollt, die Leserin soll eingelullt werden, denn das so realistisch-harmlos scheinende Gedicht entgleist dann in den Folgestrophen.

Dieser Leiereffekt ergibt sich bei längeren Kreuzreimgedichten automatisch, wenn du dem nicht entgegenarbeitest. Eine Möglichkeit ist, für den Inhalt wichtige Substantive oder Verben nicht im Reim zu platzieren, sondern an einer Stelle davor, so dass sich bei der Betonung ein Gegengewicht anbietet.

Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Sinnend geh ich durch die Gassen,
Alles sieht so festlich aus.

(Aus: Joseph von Eichendorff – Weihnachten)

Hier wird jeweils am Anfang der Zeile ein Gegengewicht zum Reim geliefert. In der ersten Zeile sind alle drei Hebungen vor dem Reim ziemlich kräftig, in der zweiten könnte man „erleuchtet“ herausheben. In Zeile drei gibt es eine Wahl zwischen der ersten und zweiten Hebung, und in der Schlusszeile verlangt „Alles“ danach, besonders betont zu werden. Die Reime haben keine Chance, ins Leiern zu verfallen.

Etwas schwieriger bei der Konstruktion ist es, Sätze über die Versgrenze hinauslaufen zu lassen, so dass der Reim beiläufiger wird.

Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt.
Wie weiß ich’s noch: ein dunkles unverwundnes
grausames Etwas, das ein Schönverbundnes
noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.

(Aus: Rainer Maria Rilke – Abschied)

Rilke lässt seine Haupt- und Nebensätze mitten im Vers enden. Dadurch werden die Reime in Zeile zwei und drei, was die Betonung angeht, ziemlich hinuntergedrückt. Das ist aber schon die hohe Kunst des Versebauens. Ein erster Schritt für dich wäre, Sätze einzustreuen, die auch mal über den Vers hinauslaufen und erst mit der nächsten Zeile enden, um dem Leiereffekt des Zeilenstils zu entkommen.

Gezwungene Reime

Reime haben eine magische Wirkung. Der Gleichklang betäubt den kritischen Verstand, denn plötzlich sind Wort- oder Inhaltsverbindungen möglich, die ohne Reim vielleicht Fragen auslösen würden. Damit das funktioniert, müssen die Reime allerdings einen selbstverständlichen Charakter haben, sie dürfen nicht gezwungen wirken. Leserinnen dürfen nicht merken, dass ein bestimmtes Wort nur aus dem Grund am Versende steht, damit sich dadurch ein Reim ergibt.

Die „Schwalbe“ fliegt über den Eriesee,
Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee;
Von Detroit fliegt sie nach Buffalo –
Die Herzen aber sind frei und froh,
Und die Passagiere mit Kindern und Fraun
Im Dämmerlicht schon das Ufer schaun,
Und plaudernd an John Maynard heran
Tritt alles: „Wie weit noch, Steuermann?“
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund:
„Noch dreißig Minuten ... halbe Stund.“

(Aus: Theodor Fontane – John Maynard)

„Guck mal, da fallen Flocken von Schnee!“ „Häh? Meinst du Schneeflocken?“

In meinen Augen ist der Reim auf Eriesee viel zu auffällig erzwungen worden. Einmal durch das Auseinanderpflücken der Schneeflocken, dann durch den etwas merkwürdigen Vergleich „Gischt schäumt … wie Flocken von Schnee“, denn den Zeitlupeneffekt kannte Fontane noch nicht. Das Problem ist, wenn ich als Leser so einen etwas zu auffälligen Reim entdecke, dann wacht mein Verstand auf. Und plötzlich sieht das Wort „Fraun“ nicht wirklich hübsch aus, aber Fontane hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, nur einsilbige Reime zu nutzen, da müssen anscheinend Opfer gebracht werden. Am Schluss macht auch das nachgeschobene „halbe Stund“ einen etwas ungelenken Eindruck. Wem muss man erklären, dass dreißig Minuten eine halbe Stunde sind?

Dichter und Gedicht sind ziemlich prominent, aber auch das schützt nicht davor, im Eifer des Gedichts Reime einzubauen, die ein wenig nach zwanghaftem Wortgebrauch aussehen. Der beste Schutz für dich selbst wäre, ein Gedicht mit etwas zeitlichem Abstand noch mal zu lesen. Dann ist die Chance größer, dass dir an einem Reim die Quetschung auffällt, die durch Zwang entsteht. Es ist zwar eine ziemliche Überwindung, ein Reimpaar, das ins Ohr geht, neu zu gestalten, aber oft genug findest du bessere Lösungen, weil du bessere Lösungen finden willst. Nur manchmal muss man halt damit leben und hoffen, dass das Gedicht die kleine Schwachstelle überlebt, wie Fontanes Gedicht „John Maynard“ trotz seiner Schwachstellen noch quicklebendig ist.

Reimwiderstand

Das ist ein Begriff, den Karl Kraus geprägt hat, und er meinte damit nicht den Widerstand gegen das Reimen an sich, sondern den Widerstand, den ein Reim überwinden muss, um qualitativ als hochwertig zu gelten. Da gibt es Unterschiede? Aber sicher:

So möge dieses schöne Scheinchen hier
zur Wunscherfüllung bestens nutzen dir.

Das ist die gewohnheitsmäßige Art zu reimen, einsilbiges zu einsilbigem Wort, muss niemand groß drüber nachdenken, weder die Dichterin noch die Leserin.

So mag dir nutzen unser Scheinchen hier
als wahres Wunscherfüllungstauschpapier.

(Aus: Hans Retep – Dies Stück Papier)

Hier hat einer nachgedacht und für den Schluss seines Gedichts zu einem Geldgeschenk ein wahres Monsterwort erfunden. Ein siebensilbiges Wort reimt auf einen Einsilber, das ist die quantitative Art des Reimwiderstands als Qualitätsmerkmal. Ein vielsilbiges Wort gibt die Reimantwort auf eines der ein- oder zweisilbigen Sorte. Natürlich kannst du nicht nur solche Reime bringen. Das wäre dann wieder zu auffällig, die Leserin würde vielleicht den Eindruck gewinnen, das Gedicht existiere nur, damit du mit außergewöhnlichen Reimen glänzen kannst. Aber als Anregung, nicht nur die „billigsten“ Reime zu nutzen, soll es schon dienen.

Es gibt aber noch eine inhaltliche Komponente des Reimwiderstands. Karl Kraus hat diese an einem Ausschnitt aus einem eigenen Gedicht verdeutlicht:

Der Reim ist nur der Sprache Gunst,
nicht nebenher noch eine Kunst,

Geboren wird er, wo sein Platz,
aus einem Satz mit einem Satz.

Er ist kein eigenwillig Ding,
das in der Form spazieren ging.

Er ist ein Inhalt, ist kein Kleid,
das heute eng und morgen weit.

Er ist nicht Ornament der Leere,
des toten Wortes letzte Ehre.

Nicht Würze ist er, sondern Nahrung,
er ist nicht Reiz, er ist die Paarung.

Er ist das Ufer, wo sie landen,
sind zwei Gedanken einverstanden.

(Aus: Karl Kraus – Der Reim)

Sein Reim von „landen“ zu „einverstanden“ schlägt eine Brücke von einer körperlichen Bewegung zu einer geistigen, so wie ein Reim auch körperliche Bewegung durch gleichmäßigen Rhythmus sein kann, aber eben auch gedankliche, sinnhafte Verbindungen schafft. Die beiden Reimwörter entstammen verschiedenen Sphären und finden im Reim sinnvoll zusammen. Eine andere Art des Reimwiderstands sind Wörter, die scheinbar völlig entgegengesetzt sind, aber sinnhaft per Reim vereint werden, in diesem Gedicht z.B. „Leere“ und „Ehre“.

Auch bei der inhaltlichen Komponente des Reimwiderstands als Qualitätsmerkmal gilt: Dies ist eine Anregung, auch mal ein bisschen um die Ecke zu denken beim Reim, nicht nur leicht zugängliche Reime zu verwenden.

Erinnerst du dich an die Reihungen aus dem Kapitel Richtig Reimen? Da hatte ich einmal „Herz“ auf „Schmerz“ angegeben, einen Reim, der technisch völlig in Ordnung ist, aber eben total abgenutzt. Wie wäre es, wenn du dir überlegst, was mit viel Reimwiderstand auf „Herz“ oder „Herzen“ reimt? Auch selbst kreierte Wörter wären willkommen. Das soll jedoch nur eine Trockenübung sein, damit du für den Fall der Fälle vorbereitet bist, es muss kein Gedicht daraus entstehen.