Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
13 - Das erfundene Ich
Wenn du Gedichte nicht nur für dich selbst schreibst oder einen kleinen Kreis, dann ist es im Normalfall so, dass die Leserinnen dich nicht kennen, fast nichts über dich wissen. Taucht also ein Ich in einem Gedicht auf, müssen sie es so akzeptieren, wie es sich in diesem Gedicht darstellt. Es ist das lyrische Ich analog zum Ich-Erzähler in Kurzgeschichten oder Romanen. Ob du tatsächlich über dich selbst geschrieben hast, spielt keine Rolle, weil nicht überprüfbar.
O lass mich nur von ferne stehn
Und hangen stumm an deinem Blick;
Du bist so jung, du bist so schön,
Aus deinen Augen lacht das Glück.
Und ich so arm, so müde schon,
Ich habe nichts, was dich gewinnt.
Oh wär ich doch ein Königssohn,
Und du ein arm verlornes Kind!
(Theodor Storm – Bettlerliebe)
Ich weiß nicht, in welchem Alter Theodor Storm dieses Gedicht schrieb. Vielleicht hat es biographische Bezüge, vielleicht nicht. Ich muss das als Leser nicht wissen, um die Situation im Gedicht zu verstehen. Ich nehme das Ich und seine Geschichte so, wie sie dargestellt werden. Das Gleiche gilt für deine Gedichte:
Leserinnen können und müssen nicht wissen, wie viel Wahrheit in deinem Gedicht steckt, wenn du über ein Ereignis schreibst. Von daher ist „Es war so“ nicht wirklich ein Argument für einen Text. Es zählt nur, ob das, was im Gedicht steht, als stimmig empfunden wird. Tatsächlich kann dir die Wahrheit sogar in die Quere kommen, weil du dich mehr darauf konzentrierst, das zu schreiben, was wahr ist, statt auf die inhaltliche und formale Qualität zu achten.
Wenn aber weder die Wahrhaftigkeit des Ichs noch die faktische Wahrheit des Geschilderten für die Leserinnen relevant sind und sie sogar störend wirken können, hat das auch eine befreiende Wirkung. Du kannst hemmungslos lügen oder freundlicher gesagt: erfinden. So ist es dir möglich, mit einem Ich im Gedicht in eine andere Rolle zu schlüpfen und Ereignisse, ganze Welten zu erfinden, ohne Rücksicht auf die Realität nehmen zu müssen. Und du solltest das auch tatsächlich tun, also weg vom eigenen Ich, vom deinem Innenleben, hin zu einem kreativen Umgang mit der Welt um dich herum. So kann sich aus jeder Kleinigkeit ein „phantastisches“ Gedicht entwickeln.
Als Kreativitätsübung schlage ich Folgendes vor: Nimm eine extreme nichtmenschliche Perspektive ein – eine Pflanze, ein Insekt, ein Stein oder was dich sonst reizen könnte. Versuche, Begriffe zu finden, mit denen aus dieser Perspektive die Umwelt beschrieben wird, die eben nicht menschlich sind, aber vielleicht noch von den Leserinnen verstanden werden können. Es muss kein fertiger Text daraus entstehen, es geht nur darum, Dinge mal aus anderer Perspektive zu denken. Als Beispiel Begriffe aus Sicht einer Spinne:
das große Leuchten – Sonne
Fadenstrukt – Spinnennetz
Krabbler – Käfer
Scheinhochflach – Gläserne Tür
Trillflieger – Vogel
Schwabbelbirg – Mensch
Seher – Augen
Fadenleb – Spinne