Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

12 - Kreuzreim

... geworden
... leer!
... Norden,
... mehr.

Der Kreuzreim ist ein bisschen schwieriger zu konstruieren als der Paarreim, weil du etwas mehr vorausdenken musst. Das ist jedoch nur Gewöhnungssache. Tatsächlich kommt diese Reimform wesentlich häufiger vor als der Paarreim, manche Dichterinnen und Dichter schreiben nichts anderes mehr, was natürlich genauso wenig eine gute Idee ist, wie Bilder grundsätzlich nur mit zwei Farben zu malen.

Der Wechsel zwischen zwei- und einsilbigen Reimen ist der Standard beim Kreuzreim, obwohl auch jede andere Variation oder immer die gleiche Reimlänge geht. Der Vorteil der einsilbigen Reime in Zeile zwei und vier ist, dass diese das Setzen eines Schlusspunktes in Zeile vier und oft auch in Zeile zwei durch die Hebung unterstützen, denn nicht selten ist eine vierzeilige Kreuzreimstrophe inhaltlich in der Mitte geteilt:

O wie ist es kalt geworden
Und so traurig, öd’ und leer!
Raue Winde weh’n von Norden,
Und die Sonne scheint nicht mehr.

(Aus: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben – Sehnsucht nach dem Frühling)

Eigentlich könnte man sogar jede Zeile als eigenständigen Satz lesen, auch wenn in Zeile zwei das Verb fehlt. Das Attraktive am Kreuzreim ist, dass er ein Wechselspiel eingebaut hat zwischen den Reimen, hier einmal einen Wechsel zwischen ein- und zweisilbigen Reimen und einen Vokalwechsel in den betonten Reimsilben. Ebenso gilt beim Kreuzreim das einheitliche Metrum als Standard, in diesem Gedicht vierhebige Verse mit konstantem Wechsel zwischen Hebung und Senkung: HsHsHsH(s).

Im folgenden Gedichtausschnitt überspielt der Satzbau jeweils das Versende von Zeile eins und drei:

An Bändern voll Honig kleben
die Menschen dort allesamt,
und andere sind zum Verleben
in süßliches Bier verdammt.

(Aus: Christian Morgenstern – Auf dem Fliegenplaneten)

Diese Strophe zeigt den Vorteil des Wechsels zwischen zwei- und einsilbigen Reimen. Die zweisilbigen Reime unterstützen die Übergänge über die Zeilengrenzen hinweg, weil die letzte Silbe unbetont ist, die einsilbige Reime verstärken die Schlusspunkte (trotz Komma gibt es auch in Zeile zwei ein Satzende). Das ist jedoch nur eine Tendenz. Daher ist auch jede andere Kombination am Zeilenende möglich oder etwa nur einsilbige Reime. In der Regel schafft der Satzbau es ganz alleine, Zeilenenden „flüssig“ zu machen oder auszubremsen.

Beim nächsten Gedicht ist ein Wechsel zwischen der Art des Satzbaus zu sehen und noch etwas anderes. Was? Wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe.

Seit ich ihn gesehen,
Glaub’ ich blind zu sein;
Wo ich hin nur blicke,
Seh’ ich ihn allein;
Wie im wachen Traume
Schwebt sein Bild mir vor,
Taucht aus tiefstem Dunkel
Heller nur empor.

(Aus: Adelbert von Chamisso – titeloses Gedicht)

Zuerst aufs Ende gesehen zu den Reimen: Hier reimt nur jede zweite Zeile. Das nennt sich halber oder heterogener Kreuzreim und ist keinesfalls ein Zeichen von Faulheit. Die Sprache wirkt etwas natürlicher, wenn nicht jeder Vers reimt. Tatsächlich kann es sogar etwas schwieriger werden, ein Gedicht zu schreiben, wenn du plötzlich am Zeilenende alle Möglichkeiten der Welt hast, statt von Reim zu Reim vorwärtszugehen. Kleinigkeit am Rande: Der Dichter hat das Schema zweisilbiger (vorletzte Silbe ist eine Hebung) und einsilbiger Schluss (letzte Silbe ist die Hebung, einsilbiger Reim) aufrechterhalten. Es gehört zu den Spielregeln beim halben Kreuzreim, dass die ungereimten Zeilen jeweils genauso betonungsgleich enden wie die gereimten.

Dies ist eine achtzeilige Strophe, prinzipiell könntest du den Kreuzreim auch in strophenlosen Gedichten verwenden. Das Interessante hier ist: Im ersten Teil gibt es jeweils zeilenweise eine Hauptsatz-Nebensatzstruktur, angezeigt durch die Kommata. Im zweiten Teil geht der Hauptsatz über zwei Zeilen und der Nebensatz ebenso. Dieses Variieren beim Verteilen der Sätze auf die Verse ist nicht unwichtig, denn sonst kann es passieren, dass ein Gedicht etwas eintönig klingt, weil stets die gleiche Satzstruktur verwendet wird. Du solltest also ein Auge darauf haben, dass du nicht immer in den gleichen Satzbautrott verfällst.

Für einen Do-it-yourself-Kreuzreim picke dir eine (oder mehrere) der folgenden Reimkombinationen heraus, aber denke daran, ein einheitliches Metrum zu verwenden. Die Wörter können auch vorne passend verlängert werden, also z.B. verstehen statt stehen oder hingegen statt gegen, oder du ersetzt eins durch eine passendere Alternative. Die Reime sind nicht aus tatsächlichen Gedichten entnommen, du bist also konkurrenzlos frei bei dem, was du daraus machst. Notfalls schreibst du Unsinnsverse, die Hauptsache ist, du bekommst ein Gefühl dafür, wie Kreuzreime konstruiert werden.

Land
sehen
Rand
stehen

weh
alt
Schnee
kalt

Regen
toben
gegen
loben