Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

11 - Das M-Wort

Ich verkündige aber allen denen, die es noch nicht wissen, hiermit ein großes und wahres Wort: Ohne diese Silbenstecherei darf kein ästhetisches Werk auf Leben und Unsterblichkeit rechnen!
(Gottfried August Bürger, Sämmtliche Werke, Band 3, S. 291, Göttingen 1844)

Wovon redet dieser Mann? Nun ja, vom M-Wort. Ich muss ein Geständnis machen: Beim Kapitel über Parodien ging es eigentlich gar nicht um Parodien, sondern ums M-Wort, ohne das Wort selbst zu erwähnen. Denn dieses Wort ist gefürchtet bei Dichterinnen und Dichtern, die ihre „künstlerische Freiheit“ durch dessen Zwang bedroht sehen. Das ist allerdings sehr kurzsichtig, denn das M-Wort eröffnet ihnen künstlerische Freiheiten, indem es ihren Horizont erweitert, ihnen neue Möglichkeiten gibt. Das M-Wort eröffnet eine neue Welt.

Ich muss zugeben, ich habe mich auch schwer damit getan, die Sache mit dem Metrum nachzuvollziehen und anzuwenden, aber als es geklickt hat, war die Welt nicht mehr die gleiche, und: Wenn du einmal „drin“ bist, verlernst du es nicht mehr. Das ist wie Schwimmen oder Radfahren, und leider ist es auch ähnlich schwer, die Sache nur theoretisch zu vermitteln. Am besten lernt man das Metrum durchs Anwenden, deshalb auch der Umweg über die Parodie.

Also: Was ist das Metrum? Eigentlich ist es nur ein anderes Wort fürs Versmaß, und das Versmaß zählt ganz trivial Versfüße. Jeder Versfuß besteht aus einer Hebung und ein bis zwei Senkungen. Bisher habe ich zumeist von betonten und unbetonten Silben gesprochen, doch strenggenommen gibt es einen Unterschied zwischen den Bezeichnungen. Die Betonung sagt etwas darüber aus, wie Wörter gelesen oder gesprochen werden. Es gibt Abstufungen: starke und schwache Betonungen, Haupt- oder Nebenbetonungen. Bei Hebungen und Senkungen gilt: entweder oder. Eine Silbe ist gehoben oder gesenkt, dazwischen ist nichts. Das macht die Sache einfacher und schwieriger zugleich: Silben, die nur schwach betont gesprochen werden, aber leicht stärker betont als die Nachbarsilben, stehen auf derselben Stufe (als Hebung) mit stark betonten Silben.

Wie wär’s mit einem praktischen Beispiel? Rein zufällig hätte ich da eins:

Immer enger, leise, leise,
Ziehen sich die Lebenskreise,
Schwindet hin, was prahlt und prunkt,
Schwindet Hoffen, Hassen, Lieben,
Und ist nichts in Sicht geblieben
Als der letzte dunkle Punkt.

(Theodor Fontane: Ausgang)

Erstmal soll es nur darum gehen, Hebungen und Senkungen im Unterschied zu Betonungen zu erkennen. Warum dich das fürs Schreiben von Gedichten einen großen Schritt voranbringt, dazu dann anschließend mehr.

Der erste Vers ist ziemlich einfach: vier zweisilbige Wörter, Betonung immer auf der ersten Silbe. Nur sagen wir nicht mehr BuBuBuBu, sondern HsHsHsHs oder: ein vierhebiger Vers. Dass die Wortbetonungen und Hebungen zusammenfallen, ist eine Regel, die Martin Opitz 1624 in seinem „Buch von der deutschen Poeterey“ als verbindlich erklärt hat. Natürlich gibt es Ausnahmen, natürlich kannst du tricksen, aber das Grundprinzip ist: Wortbetonung gleich Hebung.

Vers zwei ist schon interessanter: „Ziehen“ als Zweisilber und „Lebenskreise“, das aus zwei zweisilbigen Wörtern zusammengesetzt ist, sind eindeutig. Aber was ist mit „sich die“? Einsilbige Wörter haben keine eingebaute Betonung, weil eben nur eine Silbe, sie können sowohl Hebung als auch Senkung sein. Tatsächlich kann ein und dasselbe einsilbige Wort an einer Stelle gehoben, an anderer gesenkt werden. In diesem Fall ist die Entscheidung leicht, weil „Lebenskreise“ als BuBu-Wort eine Hebung auf der ersten Silbe produziert und „ziehen“ auf der zweiten eine Senkung. Da kein Grund zu sehen ist, warum „die“ besonders stark betont gesprochen werden sollte, bekommt „sich“ die Hebung und „die“ die Senkung, es bleibt bei vier Versfüßen im Hebung-Senkung-Schema (Hs). Dieser Versfuß wird Trochäus genannt, aber der Name ist nebensächlich.

Bei den Einsilbern zeigt sich der Unterschied zwischen betont-unbetont und gehoben-gesenkt, denn eigentlich hat keiner der zwei Einsilber eine ordentliche Betonung verdient. Das „sich“ wird jedoch ganz leicht stärker betont gesprochen, weil es nach einer unbetonten Silbe folgt, während das „die“ vor einer betonten steht, also: eins zu null, ganz oder gar nicht, Hebung-Senkung.

Vers drei („Schwindet hin, was prahlt und prunkt“) ist ähnlich, denn unter den ganzen Einsilbern ragen die Verben heraus, am Anfang steht wieder ein Zweisilber mit schwacher Endsilbe. Es bleibt nur „hin, was“ als Wackelkandidat, der aber aus den gleichen Gründen wie im Vers zuvor als Hebung-Senkung qualifiziert wird.

Vers vier präsentiert sich genauso wie der erste. Interessanter ist Nummer fünf: „Und ist nichts in Sicht geblieben“. Die zweite Hälfte ist wieder einfach: „geblieben“ – Vorsilbe mit kurzem e, Nachsilbe mit kurzem e. Folglich muss die mittlere (Stammsilbe) betont werden und damit die Hebung sein, was dann gleich „Sicht“ als Substantiv vor einer Senkungssilbe hebt. Die vier einsilbigen Wörter der ersten Hälfte sind schwieriger einzuschätzen. Hier sind „ist“ als Verb und „nichts“ als sinnstiftende Verneinung Kandidaten. Doch bevor ich mir einen abbreche, um die Hebungsfrage für die Einsilber zu entscheiden, sage ich ganz pragmatisch: Der Dichter hat ja bereits viermal das gleiche Hebungsschema genutzt, also warum soll das hier anders sein? Folglich bekommen „Und“ sowie „nichts“ die Hebungen, fertig.

Der Schlussvers („Als der letzte dunkle Punkt“) ist wieder relativ problemlos. Die beiden Zweisilber und das Reimwort zurren die Hebungen fest. Dass dieses recht schwache „Als“ dann auch gehoben wird, ist wieder der Konvention geschuldet, das Versmaß der anderen Zeilen zu übertragen, auch wenn eine Silbe wirklich nur ganz schwach stärker betont wird als die nächste.

Noch da?

Das war jetzt ziemlich ausführlich. Wie gesagt, das Metrum kann nicht so einfach erklärt werden. Es ist eine Sache, die man irgendwann im Gefühl hat. So wie man beim Fahrradfahren das Gleichgewicht hält und eigentlich gar nicht weiß, wie man das macht. Warum lohnt es nun, sich durch die etwas schwierigere Anfangsphase durchzukämpfen?

Zunächst einmal siehst du dann Dinge in klassischen Gedichten, die andere nicht sehen, denn die alten Dichter hatten einiges drauf, was das Metrum angeht. Doch wichtiger: Indem du dich durch ein starres Metrum in jeder Zeile einschränkst, musst du Lösungen finden, nach denen andere gar nicht erst suchen. Das Komische ist: Dabei ergeben sich oft genug Ideen, auf die man nie und nimmer gekommen wäre, hätte es nicht die Metrumvorgabe gegeben. Mit der Zeit wird es tatsächlich so sein, dass das Metrum beflügelnd wirkt beim Schreiben. Da ist auch irgendwie Magie am Werk, denn eigentlich, wenn du ein Gedicht betont liest, bleibt das Metrum ein unsichtbares Gerüst. Mal wird das eine Wort, mal das andere stärker betont, doch das zugrundeliegende Versmaß hält alles harmonisch zusammen.

Letztlich ist das Metrum eine Stufe, die du erklimmen solltest, wenn du Gedichte schreiben willst. Dann winken zwar nicht gleich Ruhm und Ehre, wie im Eingangszitat versprochen, doch für das geübte Auge, und manchmal auch für das ungeübte, ist es ein gewaltiger Unterschied, ob jemand ein Reimgedicht mit oder ohne Metrum schreibt. Die Einschränkung, die von manchen Dichterinnen und Dichtern beklagt wird, wenn man das Metrum nutzt, ist tatsächlich Ursache für mehr Flexibilität, neue Ideen und Ausdrucksmöglichkeiten (indem man z.B. etwas hervorhebt durch eine Abweichung vom regelmäßigen Metrum) und nebenbei klingen Gedichte einfach besser, wenn sie auf Metrumbahnen fahren.

Das ist alles schön und gut, doch was zählt, ist die Praxis. Bei den folgenden beiden Gedichten pick dir zur Bestimmung des Versmaßes eine Zeile heraus, wo das einfach erscheint. Beim zweiten Gedicht gibt es natürlich den Unterschied am Versschluss, weil es mal einsilbige, mal zweisilbige Reime sind. Wenn du das Versmaß gefunden zu haben glaubst, geh die anderen Verse durch, ob es wirklich passt. Und dann: Fröhliches Ersetzen von Wörtern ohne Sinn und Verstand, bis die Dichter ihre eigenen Werke nicht mehr wiedererkennen, das Versmaß muss natürlich aufrechterhalten werden.

Du kannst das für dich selbst interessanter und herausfordernder gestalten, wenn du dir vornimmst, Wörter einzubauen, die eine andere Silbenzahl als im Original haben. Ist das neue Wort länger, müssen andere Wörter verkürzt oder eingespart werden, ist das Wort kürzer, brauchst du mehr Wörter oder mehr Silben für andere Wörter im Vers.

Anders sein und anders scheinen,
Anders reden, anders meinen,
Alles loben, alles tragen,
Allen heucheln, stets behagen,
Allem Winde Segel geben,
Bös’ und Guten dienstbar leben;
Alles Tun und alles Dichten
Bloß auf eignen Nutzen richten:
Wer sich dessen will befleißen,
Kann politisch heuer heißen.

(Friedrich von Logau – Heutige Welt-Kunst)

Am Waldessaume träumt die Föhre,
Am Himmel weiße Wölkchen nur,
Es ist so still, dass ich sie höre,
Die tiefe Stille der Natur.

Rings Sonnenschein auf Wies und Wegen,
Die Wipfel stumm, kein Lüftchen wach,
Und doch, es klingt, als ström’ ein Regen
Leis tönend auf das Blätterdach.

(Theodor Fontane – Mittag)