Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?
10 - Zeigen und schweigen
Wenn du über ein Rotkehlchen schreibst, das versucht, einen zappelnden Wurm zu schlucken, oder wenn du über ein Rotkehlchen schreibst, das auf einem kahlen Ast sitzt und singt, dann sagt das etwas über dich, weil du gerade diese Szene in einem Gedicht verarbeitest. Und es wird etwas über jede einzelne Leserin sagen, je nachdem, welche Gedanken sich bei ihr einstellen. Wenn du aber schreibst: Die Welt ist schlecht und zum Vergessen, man frisst oder wird gefressen. Oder wenn du schreibst: Ach ja, das Leben, es ist so schön, nach jedem Winter werden wir den Frühling sehn. Dann triffst du Feststellungen und sagst den Leserinnen, was sie denken sollen.
Dass Dichter Leser belehren, hat eine lange Tradition. Vor über 2000 Jahren forderte der Römer Horaz, dass die Dichtung belehren oder unterhalten soll oder beides gleichzeitig. Und Goethe schrieb noch 1827: „Alle Poesie soll belehrend sein, aber unmerklich; sie soll den Menschen aufmerksam machen, wovon sich zu belehren wert wäre; er muss die Lehre selbst daraus ziehen wie aus dem Leben.“ Es spricht also nichts dagegen, weiterzugeben, was du meinst, über das Leben und die Welt gelernt zu haben. Doch wie der Herr Goethe andeutete, ist es besser, Platz zu lassen für die Gedanken der Leserinnen, als Dinge direkt auszusprechen.
Ein großer Teich war zugefroren;
Die Fröschlein, in der Tiefe verloren,
Durften nicht ferner quaken noch springen,
Versprachen sich aber, im halben Traum,
Fänden sie nur da oben Raum,
Wie Nachtigallen wollten sie singen.
Der Tauwind kam, das Eis zerschmolz,
Nun ruderten sie und landeten stolz
Und saßen am Ufer weit und breit
Und quakten wie vor alter Zeit.
(Johann Wolfgang von Goethe – Die Frösche)
Geht es hier um Frösche? Nur an der Oberfläche. Goethe zeigt, wie Menschen mit Widrigkeiten umgehen, aber: Er spricht kein Urteil, sondern überlässt den Leserinnen und Lesern, darüber nachzudenken, ob dieses fröschliche Verhalten eine gute oder schlechte Idee ist.
Du brauchst also etwas Vertrauen in die Leserinnen, dass sie selbst sich etwas denken oder darauf kommen, was du mit einem Gedicht eigentlich sagen willst, wenn du damit etwas sagen willst, denn du musst mit einem Gedicht nichts sagen wollen. Tatsächlich ist es wesentlich besser, wenn du nicht mit einem „um zu“ an ein Gedicht herangehst, sondern dem folgst, was sich in deinem Kopf zusammenbraut. Du musst also dir selbst vertrauen, dass die Dinge, die du niederschreibst, einen Sinn ergeben, wobei auch Unsinnspoesie durchaus ihren Platz hat.
Um zu direkte Aussagen zu vermeiden, wenn du etwa ein eigenes Hoch oder Tief in einem Gedicht verarbeiten willst, ist eine Möglichkeit, die Perspektive zu wechseln: Statt ich verwende sie oder er. Statt nur Innerliches zeige Äußerliches, nimm lieber die (scheinbare) Beobachterperspektive ein. Das verschafft dir auch ein wenig Abstand von deinem Gefühlsleben.
Eine andere Sache ist der Kommentar zu aktuellen Ereignissen auf der Welt. Natürlich kann man seine Meinung in Reime pressen und der ganzen Welt verkünden, doch wird sie dadurch nicht bedeutender, sie bleibt nur eine Meinungsäußerung. Und als Gedicht ist sie nicht viel wert, weil viel zu direkt. Selbst wenn du den Ratschlag „Zeigen und schweigen“ beherzigst, kann immer noch die Tendenz viel zu klar durchscheinen. Beispiel: Ein Gedicht über einen Obdachlosen. Die Versuchung ist groß, hier Mitleid zu erwecken, auf die Tränendrüse zu drücken, statt einen Obdachlosen als Menschen zu behandeln mit guten und schlechten Seiten.
Halte dich also eher ans Äußere als ans Innere, eher an die Andeutung als die klare Aussage, denn das Schöne ist, wenn man selbst Gedichte schreibt: Andere müssen sie interpretieren.