Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

Wie schreibt man ein Gedicht mit wenig Schatten und viel Licht?

1 - Vorweg

Das Spiel

Es gibt ein Spiel, das bietet
mehr
mögliche Spielverläufe als das indische Schach.
Es gibt ein Spiel, das bietet
mehr
mögliche Spielverläufe als das chinesische Go.
Und das Beste:
Du kannst es allein spielen
und musst nicht darauf hoffen,
dass ein Gegner einen Fehler macht.
Schaffst du es bis zum Ende,
gewinnst du,
und wenn du gewinnst,
gewinnen alle.
Schaffst du es nicht,
muss es niemand wissen
und im Stillen lernst du daraus.
So wirst du immer besser,
deine Siege werden immer spektakulärer
und da ist niemand auf der Verliererseite,
der traurig sein muss.
Du kannst das Spiel überall spielen,
du brauchst keine kostspielige Ausrüstung,
Stift und Papier oder ein Handy reichen.
Das Spiel ist im Prinzip von jedem zu erlernen,
man nennt es:
Ein Gedicht schreiben.

Du möchtest ein Gedicht schreiben, ein gutes Gedicht, vielleicht sogar mehrere oder – Schock! – ganz viele. Und du hoffst, dass dir jemand dabei helfen könnte. Du willst nicht einfach so drauflos schreiben und dann wird es nichts. Das ist schon mal ein guter Anfang.

Hier kommt die schlechte Nachricht: Es gibt keine Regeln mehr in der Lyrik. Nimm irgendeinen Terminplan oder eine To-do-Liste, verteile, gruppiere, ordne die Wörter beliebig auf der Fläche eines Papiers oder Bildschirms und behaupte, dies ist ein Gedicht. Dann ist es eins. Nur die strikte Form, die von der Dichterin festgelegte Anordnung der Wörter und Zeilen, die unabhängig vom Medium immer gleich bleibt, hebt ein Gedicht noch ab von einem Prosatext, in dem sich der Textfluss dem zur Verfügung stehenden Raum jeweils anpasst. Reime, Metrum, bildlicher Sprachgebrauch oder überhaupt ein poetischer Klang sind nicht mehr entscheidend für ein Gedicht.

Dann musst du also gar nichts lernen, um Gedichte schreiben zu können? Du musst nicht, aber: Stell dir vor, du stehst auf einer weißen Ebene unter einem weißen Himmel. Keine Fußspuren zeigen, woher du kommst, du wirfst nicht mal einen Schatten. Es gibt keine Landschaft, der Ausblick ist in alle Richtungen gleich. Nun bemerkst du, dass du Hunger und Durst hast. In welche Richtung gehst du?

Entweder hast du großes Glück oder bist ein Genie, wenn du die richtige Richtung einschlägst. Übertragen auf die Lyrik heißt das: Wenn alles geht, es keine Anhaltspunkte oder Regeln gibt, ist es äußerst schwierig, mit einem Gedicht einen Treffer zu landen. Glücksfälle und Genialität haben einen gemeinsamen Nachteil: Sie sind verdammt selten.

Deshalb ist meine Idee, Gedichte so schreiben zu lernen, wie man ein anspruchsvolles Spiel erlernt, z.B. Schach: Erst lernt man, wie die Figuren ziehen, dann wie sie am besten zusammenarbeiten. Generationen von Schachspielern haben nach und nach Gesetzmäßigkeiten herausgefunden und viele Beispiele dafür geliefert. Im Prinzip durchläuft jeder Schachspieler die Schachgeschichte im Schnelldurchlauf. Wenn er endlich den Stand der Kunst anwenden kann und verinnerlicht hat, befindet er sich schon auf einem sehr hohen Spielniveau. Und dann lernt er in der eigenen Praxis, gegen Regeln zu verstoßen. Je nachdem wie gut ihm das gelingt, macht ihn das zu einem herausragenden Schachspieler. Er hat also die Regeln nur gelernt, um sie zu vergessen. Damit er jedoch überhaupt sein Talent entfalten kann, braucht es die grundlegenden Kenntnisse und viel Praxis.

Ich werde dich mit einigen Regeln bekannt machen, die Dichter in der Vergangenheit für ihre Gedichte genutzt haben. Diese Regeln haben ihnen geholfen, Gedichte zu schreiben, die Jahrhunderte überlebten.

Es ist ein Schnee gefallen,
und es ist doch nit Zeit;
man wirft mich mit dem Ballen,
der Weg ist mir verschneit.

Mein Haus hat keinen Giebel,
es ist mir worden alt,
zerbrochen sind die Riegel,
mein Stüblein ist mir kalt.

Ach Lieb, lass dich erbarmen,
dass ich so elend bin,
und schleuß mich in dein Arme:
So fährt der Winter hin.

(Anonym — ohne Titel)

Dieses Gedicht ist nicht perfekt, doch es stammt aus dem 15. Jahrhundert. Es deutet eine Geschichte nur an, genug, um Leserinnen anzuregen, die Lücken selbst zu füllen. Und es verlässt sich nicht nur aufs Reimen, sondern nutzt bereits Regelmäßigkeiten, die auch noch Jahrhunderte später galten. Ich lass den Fachjargon jetzt mal weg und sage nur: Die Dichterin oder der Dichter war trotz des etwas naiven Tons mit Sicherheit kein Naivling, sondern wusste, was es brauchte, um ein Gedicht so eingängig zu machen, dass es gerne weitergegeben wurde. Und selbst wenn du mit deinen Gedichten nicht so hoch hinauswillst, dass sie Jahrhunderte überleben, gibt es einige Dinge, die sich zu kennen und anzuwenden lohnen, um bessere Gedichte zu schreiben.

Das fängt mit der einfachen Frage an, was eigentlich ein Reim ist, geht über die Wortbetonungen bis zu vielen Kleinigkeiten, die nützlich sind, um ein gutes Gedicht zu schreiben. Selbst wenn du nicht vorhast, gereimte Gedichte zu schreiben, sondern wie heutzutage üblich freie Verse, wirst du davon profitieren, wenn du gelernt hast, innerhalb eines engen Regelkorsetts vorzugehen. Du wirst zwangsläufig flexibler in der Wortwahl, bist nicht immer gleich mit der ersten Idee zufrieden, lernst zu verdichten; die scheinbare Einengung führt tatsächlich zu einer Erweiterung der eigenen Möglichkeiten.

Solltest du nicht ganz am Anfang stehen, vielleicht schon einige Gedichte geschrieben haben, empfehle ich trotzdem, auch Kapitel mitzulesen und mitzumachen bei Techniken, die du schon kennst. Es gibt immer etwas zu entdecken, dessen du dir vielleicht als Selbstverständlichkeit gar nicht mehr bewusst bist oder das mangels Anwendung schlicht in Vergessenheit geraten ist.

Welche Hilfsmittel sind erlaubt?

Alle.

Du bist letztlich nur für das Endergebnis verantwortlich, das auf eigenen Füßen stehen muss, aber wie du dort hingekommen bist, wo du dir Ideen und Rat geholt hast, ist belanglos. Du hast die Entscheidungen getroffen, die zum Endprodukt führten. Tatsächlich sind nicht nur alle Hilfsmittel erlaubt, du solltest sie auch wirklich nutzen. In früheren Zeiten brauchte es zig Bücher, heute findest du alles, was du brauchst, im Netz, vom orthografischen Wörterbuch bis zum Reimlexikon.

Nützliche Webseiten:
Duden (Rechtschreibung, Zeichensetzung)
Wortschatz (Synonyme)
Echtreim (Reime)

Eher schlecht ist es um fachmännische Hilfe bei einem Gedicht bestellt. Das Lob von Freunden und Verwandten ist kein Gradmesser für die Qualität eines Textes. Sie möchten dich bestätigen, nicht herunterziehen durch Kritik (obwohl sie hilfreich wäre). Leider gibt es trotz der vielen Möglichkeiten im Netz, Gedichte zur Diskussion zu stellen, dort nur selten brauchbare Resonanz, denn ein Lob ist schnell gemacht, über Kritik muss man nachdenken. Du solltest also deine eigene Kritikerin werden. Das klappt am besten, wenn du deine Gedichte etwas liegen lässt und stetig dazulernst, dein Urteil also mit mehr Know-How fällen kannst als zum Zeitpunkt des Schreibens. Grundsätzlich ist es keine gute Idee, ein Gedicht gleich nach Fertigstellung zu veröffentlichen. Tatsächlich habe ich gelogen. Es gibt doch noch eine Regel in der Lyrik, die auch für alle Zeit gelten wird: Eine Nacht drüber schlafen. Gewinne Abstand, schaue noch mal jenseits des Schaffensrausches nüchtern über dein Gedicht. Und wenn es dir dann fertig scheint, dann gelten wirklich keine Regeln mehr.