Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

9 - Der Mann im Lehnstuhl

 

Der Mann im Lehnstuhl

Saß einst in einem Lehnstuhl still
Ein viel gelehrter Mann,
Und um ihn trieben Knaben Spiel
Und sahn ihn gar nicht an.

Sie spielten aber Steckenpferd,
Und ritten hin und her:
Hopp, hopp! und peitschten unerhört,
Und trieben ’s Wesen sehr.

Der Alte dacht in seinem Sinn:
»Die Knaben machen’s kraus;
Muss sehen lassen wer ich bin.«
Und damit kramt’ er aus;

Und machte ein gestreng Gesicht,
Und sagte weise Lehr.
Sie spielten fort, als ob da nicht
Mann, Lehr, noch Lehnstuhl wär.

Da kam die Laus und überlief
Die Lung und Leber ihm.
Er sprang vom Lehnstuhl auf, und rief
Und schalt mit Ungestüm:

»Mit dem verwünschten Steckenpferd!
Was doch die Unart tut!
Still da! ihr Jungens, still, und hört!
Denn meine Lehr ist gut.«

»Kann sein«, sprach einer, »weiß es nit,
Geht aber uns nicht an.
Da ist ein Pferd, komm reite mit;
Denn bist du unser Mann.«

 

Vom Studium war bald kaum noch die Rede. Matthes ließ sich immer tiefer ins Reich der Literatur hineinziehen. Meine Rolle dabei blieb bescheiden. Manchmal traf ich es richtig, manchmal schaute mich Matthes an und sagte nur: „Ach, Freund Hain.“

Sein Freund Gerstenberg – Heinrich Wilhelm von – war die Sirene, die ihn lockte. Er stammte aus Schleswig, war drei Jahre älter. Sein Jura-Studium hatte er abgebrochen. Harte Arbeit war seine Sache nicht. Er schlug die Offizierslaufbahn bei den Dänen ein.

Freund Gerstenberg konnte so etwas wie eine literarische Karriere vorzeigen. Er hatte zwei Gedichtbände veröffentlicht, schrieb Rezensionen für die „Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste“. Huh!

Wenn ich bei Matthes vorbeischaute, hieß es entweder: „Kennst du dieses Gedicht schon?“, oder: „Habe ich dir schon Gerstenbergs neuen Brief vorgelesen?“ Die Ferne vertiefte die Freundschaft. Für meinen Geschmack ließ sich Matthes zu sehr von der gespreizten Brillanz der Briefe blenden.

Die Zeit in Jena endete abrupt. Matthes bestand eine Jura-Prüfung, fuhr nach Hause und kam nicht mehr zurück.

Schwesterchen Dorothea hatte einen Pastor Müller geheiratet. Am Morgen nach der Hochzeit eröffnete Matthes seinem Vater, wie er sich die Zukunft vorstellte. Wir hatten geprobt. Ich bekam die Rolle des Vaters. Gab den Advocatus Diaboli. Die Übung entpuppte sich als überflüssig. Vater Claudius akzeptierte die Vorstellungen seines Sohnes.

Matthes schilderte ihm, dass er in der Literatur seine Berufung sähe. Er sprach von den hervorragenden Verbindungen, die er durch die Jenaer Teutsche Gesellschaft in der Literaturwelt hätte. Von den wohlwollenden Reaktionen der Literaturkenner dort. Erwähnte natürlich auch seinen erfolgreichen Freund Gerstenberg. Sein Plan: Eine erste Sammlung mit Gedichten und Erzählungen vollenden und veröffentlichen. Anschließend wollte er sich um eine Stellung im Staatsdienst bemühen, die ihm Zeit genug zum Schreiben ließ.

Unterschätze mir jedoch keiner Vater Claudius. Er sah die Brüchigkeit dieses Plans. Aber er vertraute seinem Sohn. Dass er die Wende schaffte, falls sich seine Vorstellungen nicht erfüllten. Woher ich das weiß? Ich bin dageblieben, als die Eltern miteinander redeten, habe aber Matthes nichts davon gesagt.

Zunächst ging alles nach Plan: Er schrieb sein Buch und fand einen Verlag. Sein Erstling hieß: „Tändeleyen und Erzählungen“.

Die Titelähnlichkeit mit Gerstenbergs „Tändeleyen“ entsprang nicht der Geldgier des Verlegers. Obwohl es solche schon gab. Nachahmer, die versuchten, sich an erfolgreiche Bücher anzuhängen. Man war zum Teil noch konsequenter und druckte den Bestseller einfach nach. Nein, Matthes selbst wollte auf das große Vorbild im Titel hinweisen.

Gerstenberg war gebauchpinselt einverstanden gewesen. Die Leser auch. Ein Jahr später gab es bereits eine zweite Auflage. Da war Matthes schon in Kopenhagen als Privatsekretär des Grafen Holstein.

Nicht einverstanden war die Literaturwelt. Die erste Kritik kam aus Jena von den dortigen „Kritischen und zuverlässigen Nachrichten“. „Wahrlich wunderlich“ wurde das Buch genannt, eine Verirrung, „die kein großes Genie verrät“. Matthes wurde als plumper Nachahmer des großen Gerstenberg dargestellt. Wir lachten darüber. Was wussten schon diese dilettantischen Zeitungsschmierer?

Doch es wurde nicht besser. Der Tiefpunkt war, als ihn die neue Ausgabe der „Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste“ in Kopenhagen erreichte. Gerade noch mit dem großen Klopstock Eislaufen gewesen, erschlug ihn die Kritik:

„Wir würden uns sehr gewundert haben, wenn sich nicht auch Nachahmer zu unsers von Gerstenbergs ‚Tändeleyen’ hätten finden sollen. Denn es gibt unter uns eine zahlreiche Anzahl von Leuten, die wie gewisse Tiere, welche Mienen und Gebärden des Menschen nachmachen, sich gleich auch für fähig halten, den Beifall eines großen Genies einzuernten, wenn sie nur jenem die Gebärden nachmachen.“

Matthes als Äffchen, das den genialen Gerstenberg nachahmte? Die Beleidigung von einer hoch geschätzten Stelle saß. Matthes legte sich ins Bett. Seine Brustfellentzündung flammte wieder auf.

Kaum genesen, verabschiedete er sich vom Grafen Holstein. Matthes war wieder zu Hause – stellungslos und fertig mit der Literatur.

Ich gebe zu: Ich habe mich zu jener Zeit etwas rar gemacht. In Kopenhagen hatte er Gesellschaft genug. Zu Hause in Reinfeld war es auch nicht immer leicht, ihn allein anzutreffen. Meine etwas leichtfüßigen Anmerkungen zu Kritikern bügelte Matthes scharf ab. Und in der Sache argumentieren? Das war mir nicht gegeben. Ich bin eher prosaischer Natur. Daran hatten die vielen Gedichtlesungen nichts geändert.

Monate vergingen. Matthes kümmerte sich etwas um die Bildung seines jüngsten Bruders, half manchmal bei seinem Vater aus. Abends spielten sie eine Partie Schach, musizierten oder lasen gemeinsam in der Bibel. Was man halt so machte zur Unterhaltung. Zaghafte Versuche, eine neue Anstellung zu finden, verliefen im Sande. Und Matthes schrieb keine einzige Zeile.

Mir wollte das nicht in den Kopf. Auch wenn ich wenig davon verstand, schien mir doch, dass die Gedichte immer besser wurden. Und dann: schwups, kein Wort mehr. Obwohl er Leser gefunden hatte. Anscheinend waren es ihm die falschen.

Schließlich ergab sich eine Gelegenheit, ernsthaft mit ihm zu reden. Das Unvermeidliche war eingetreten: Ich musste den Hut abnehmen.


Kommentar des Autors:

Lange Zeit hieß es, Claudius habe sein Studium ohne Abschluss abgebrochen bis die schon erwähnte Frau Kranefuss herausfand, dass er einen Abschluss in Jura erworben hatte: étudiant en droit. Die Kritikerzitate sind echt, damals hat man noch ziemlich derbe draufgehauen. Auch das Eislaufen mit Klopstock und die Brustfellentzündung sind biographisch verbrieft. Doch was er in den drei Jahren nach dem Studium in seinem Elternhaus getrieben hat, das ist in allen Biographien ein schwarzes Loch. Man weiß nur: Anschließend hat sich Matthias Claudius in den Dichter Claudius verwandelt, wie man ihn heute noch kennt.