Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

8 - In den nächsten Monaten ...

 

In den nächsten Monaten ließ sich Matthes von der schönen Literatur gefangen nehmen. Klar, musste doch aus ihm der Dichter Matthias Claudius werden. Nur: Konnte das jemand ahnen? Auf einen berühmten Autor kommen Tausende, die gefangen zugrunde gehen. Auch Matthes hätte es beinahe erwischt.

Als ich das erste Mal nach unserem Handschlag erschien, saß er in seiner Stube am Schreibtisch. Die Feder kratzte über das Papier. Matthes schrieb, strich, schrieb und zuckte zusammen, sobald er mich bemerkte.

„Freund Hain.“

Er räusperte sich und schaute mich etwas schräg an.

„Nun, da bin ich wieder. Stimmt etwas nicht? Komme ich ungelegen?“

„Nein, nein.“

Noch mal beseitigte Matthes ein Kratzen im Hals. Dann eröffnete er mir seinen Kummer:

„Nehme er mir das nicht übel. Wo wir jetzt sozusagen Freunde sind, ist Misstrauen nicht mehr angebracht, aber fragen muss ich dennoch: Woher weiß ich, dass er nicht kommt, um … na, Sie wissen schon.“

„Ah, das. Du hast recht. Darüber habe ich mir gar keine Gedanken gemacht. Lass mich überlegen.“

Es klingt seltsam, aber mir war, als ob sich der Hut von Opa Nikolaus bemerkbar machte. Erst jetzt spürte ich ihn auf meinem Kopf.

„Wie wär’s damit? Komme ich als Freund, behalte ich den Hut auf. Komme ich in Sachen von Leben und Tod, nehme ich ihn ab. Das heißt, auch wenn ich schlechte Nachrichten habe, jemand stirbt, der dir nahe steht.“

Matthes nickte, sagte aber nichts. Vielleicht dachte er wieder an Josias. Ich suchte ihn abzulenken.

„Was machst du? Studierst du fleißig?“

Er schien mich nicht gehört zu haben.

„Sagen Sie, Freund Hain, was passiert, wenn man stirbt?“

„Das hatten wir doch schon. Ich weiß nicht, was danach kommt.“

„Nein, nein, ich meine, genau in dem Moment, in dem einer stirbt. Was machen Sie?“

Das war nicht leicht zu erklären. Die Kraft war die Kraft. So weit, so klar. Aber der Schnitt? Ich hatte damals keinen Begriff, der passend schien, um zu erklären, was genau passiert. Darauf kam ich erst viel später. Ich kann das Geheimnis ruhig lüften. Es wird mir eh keiner glauben.

Mir ging ein Licht auf, als ich Alan Smith schnitt. Er saß in einem kleinen, dunklen Saal in San Francisco, in dem besagtes Licht merkwürdig flimmerte. Ich baute mich vor ihm auf. Damals hatte ich meine Abraham Lincoln-Phase. Er wollte mich wegschieben. Schrie „Can’t see a’thing“, sah zu mir hoch und verschluckte sich an einer Pistazie. Alan Smith hustete, bekam keine Luft, sein Herz gab auf und ich schnitt. Was mich irritierte, war das Geflacker hinter mir.

Ich drehte mich um und sah: Zwei Männer, die einen Lokführer mit Pistolen bedrohten. Jedoch keine Männer aus Fleisch und Blut, Männer aus Licht und Schatten in schwarz und weiß. Die Bildqualität war nicht besonders, Ton gab es keinen. Aber ich hatte endlich den richtigen Begriff für den Schnitt.

Davon hat jeder mal gehört: Kurz bevor einer stirbt, sieht er sein Leben rasend schnell wie in einem Film ablaufen. Und genau das mache ich: Ich sauge den Film ab und setze den letzten Schnitt. 21 Gramm gehen dem Menschen dabei verloren. Das hat ein amerikanischer Arzt herausgefunden. Er hielt es für das Gewicht der Seele.

Für mich ist es ein Film: ohne Drehbuch, ohne Regisseur, ohne Proben. Mit nicht besonders guten Schauspielern. Immer mit subjektiver Kamera. Ton und Bild werden mit der Zeit schlechter. Die einzige Chance für den Hauptdarsteller: improvisieren. Und: sich nicht auf eine Rolle festlegen lassen. Nur eine Rolle durchhalten, das geht meistens schief. Habe ich zu oft gesehen, zum Beispiel bei den Literaten, die nach Höherem strebten.

Aber damals konnte ich Matthes keine zufriedenstellende Auskunft geben:

„In jedem Menschen ist eine Kraft, die mich leitet. Erreicht sie den Höhepunkt, setze ich den Schnitt. Er tut, so viel ich weiß, nicht weh. Dabei sehe ich blitzschnell das ganze Leben des Sterbenden.“

„In Bildern gemalt?“

„Nein, so wie du die Welt siehst, aber rasend schnell ein Augenblick hinter dem anderen.“

„Also wie Erinnerungen. Man erinnert sich an sein ganzes Leben?“

„Ich weiß nicht, ob der Sterbende diese Bilder sieht. Manch einer weiß ja nicht mal mehr seinen Namen. Aber ich sehe sie und ich weiß den Namen dazu. Wofür das gut ist, kann ich dir nicht sagen. Ich bin nur ein dummer Diener.“

Und so komme ich mir heute noch vor. Wohin gehen die Filme? Was passiert mit ihnen? Guckt, sammelt, schneidet sie jemand neu? Ich weiß nichts. Mit mir redet keiner.

Matthes guckte etwas skeptisch. Dann lächelte er.

„Schon gut, Freund Hain, es sei dahingestellt, ob du wirklich nur so schlau bist wie wir alle oder ein göttliches Geheimnis bewahrst. Kannst du auch ein ganz und gar ungöttliches Geheimnis bewahren?“

„Sicher.“

„Freund Hain … ich schreibe Gedichte.“

„Oh.“

Matthes beachtete meine einfallsreiche Antwort nicht.

„Darf ich ihm eines vorlesen? Es ist sicher noch nicht feingeschliffen, glänzt an manchen Stellen zu viel, an manchen zu wenig, doch als Kostprobe mag es angehen.“

„Nur zu, ich höre.“

Er nahm das Blatt Papier vom Tisch, das er gerade noch beschrieben hatte. Noch mal Geräusper. Es schien der Tag des Frosches zu sein. Und dann, den Blick aufs Blatt gerichtet, las Matthes vor:

„Du kleine, grünumwachsene Quelle, an der ich Chloe jüngst gesehen! Dein Wasser war so still! So helle! Und Chloens Bild darin … so schön! Oh, wenn sie sich noch mal am Ufer sehen lässt, so halte du ihr schönes Bildnis fest. Ich schleiche dann voll Liebe einsam hin, dem Bilde mein Gefühl zu klagen. Denn wenn ich bei ihr selber bin, dann, ach, dann kann ich ihr nichts sagen.“

Erwartungsvoll sah er zu mir hoch. Nun war es an mir, mich zu räuspern.

„Sehr poetisch, sehr schön.“

Matthes hob die Augenbrauen. Das war anscheinend noch nicht genug.

„Und … das Wasserbild spricht vom Zauber des Augenblicks.“

Wo hatte ich das her?

„Aber auch von Vergänglichkeit.“

Das lag mir schon näher.

„Und Witz hat es auch. Also mir gefällt’s.“

Mir gefiel es wirklich. Matthes strahlte mich an.

„Ich glaube, Freund Hain, das war ein Fehler.“

„Warum?“

„Nun werde ich dir immer meine Gedichte vorlesen.“

Und damit war meine Rolle bei den ersten Gehversuchen des Dichters Matthias Claudius festgelegt: Zuhören und ein paar passende Worte stammeln. Mir genügte das vollständig. Es war ein Anfang, der eine Fortsetzung versprach. Das hatte für mich Zauber genug.


Kommentar des Autors:

Die Filmszene, die Alan Smith sieht, ist aus „The Great Train Robbery“, dem ersten Western der Filmgeschichte, der 1903 mit 12 Minuten Laufzeit in den USA lief. Alan Smith ist nebenbei gesagt das beliebteste Pseudonym von Regisseuren, die nicht unbedingt mit ihrem Film in Verbindung gebracht werden möchten. Die Vertrautheit mit dem Medium Film ist auch eine Erklärung für die Erzählweise von Freund Hain. Viele Kapitel sind wie Filmszenen aufgebaut: kurze Einführung in die Szene und dann viel Dialog. Die 21 Gramm-Seele wurde von Duncan MacDougall „entdeckt“. Das Gedicht am Schluss stammt aus dem ersten Claudius-Buch „Tändeleien und Erzählungen“. Es gibt eine spätere Version, die Aufnahme in die gesammelten Werke fand, aber dies ist das Original bis auf die Ausrufezeichen, die andeuten sollen, dass Matthes das Gedicht mit Emphase vorgelesen hat.