7 - Die Tränen versiegten
Die Tränen versiegten. Matthes wurde ruhig. Er hob den Kopf, sah mich merkwürdig an. Ich verstand. Ihm war klar geworden, wem er sich an die Brust geworfen hatte. Auch mir war es nun unangenehm. Ich ließ ihn los und setzte mich wieder auf den wackeligen Stuhl.
„Werde ich ihn wiedersehen?“
Das musste ja kommen.
„Glaubst du, dass du ihn wiedersehen wirst?“
Er nickte.
„Dann wird es so sein. Ich kann dazu nichts sagen. Nicht weil ich nicht dürfte. Weil ich es nicht weiß.“
„Wie kann es sein, dass Sie es nicht wissen?“
„Ich tue, was ich tun muss. Alles darüber hinaus ist mir unbekannt. Du hast von den drei Parzen der alten Römer gehört: Nona, Decima und Morta. Nona spinnt den Lebensfaden, Decima vermisst ihn und Morta schneidet ihn, wenn es so weit ist. Und das ist mein Part. Nichts weiter.“
„Und was ist mit Gott?“
„Alles, was ich über Gott weiß, stammt aus den Erzählungen der Menschen. Du kannst nur glauben, Matthias, ich kann dir keine Gewissheit geben.“
Sein Blick verriet: So ganz traute er mir nicht. Aufgemuntert hat ihn mein Nichtwissen auf keinen Fall. Und so saßen wir da: schweigend, im Licht eines trüben Wintertags, das durchs kleine Fenster drang.
„Wie geht’s nun weiter?“, fragte ich.
„Wenn Sie es nicht wissen, weiß ich es schon gar nicht“, stieß Matthes hervor.
Das ging schnell. Gerade noch an meiner Brust gelegen, jetzt schon wieder abweisend. Doch ich hatte mich nicht nur auf die Unlogik seiner Rede vorbereitet. Ich wollte Matthes auch aus seiner Starre lösen. Wollte ihn zum Leben erwecken. Was zugegeben aus meinem Munde seltsam klingt.
Dafür hatte ich bei ihm Josias als weiche Stelle ausgemacht. Ich zog als Joker Punkt zwei meiner Vorbereitung.
„Was hätte Josias getan?“, fragte ich in einem Ton, als gelte die Frage mir selbst.
Matthes schaute mich an. Ich hatte ihn am Haken.
„Nehmen wir einmal an: Josias hätte diese unglückselige Rede vorgetragen. Und dann hätte er entdeckt, dass er die gesamte Versammlung zum Narren gehalten hatte. Unbeabsichtigt. Aber nichtsdestotrotz: die gesamte Professorenschaft zum Narren gehalten. Was meinst du, was wäre seine Reaktion ge-wesen?“
„Er hätte gelacht“, entfuhr es Matthes. „Er hätte sich kringelig gelacht und mich im Himmel um Verzeihung gebeten, und selbst dabei hätte er gelacht.“
Er hellte sich merklich auf bei dem Gedanken. Ein Anfang war gemacht. Bevor die Stimmung wieder umkippte, wollte ich Punkt zwei weiter ausrollen.
Da klopfte es.
„Herr Claudius, ein Brief für Sie“, rief mit kraftvoller Stimme die Wirtin vor der Tür und klopfte noch mal energisch.
Matthes schaute mich fragend an.
„Kann ich ...?“
Ich nickte.
„Entrez!“
Die voluminöse Wirtin trat ein, schwenkte den Brief. Matthes sah verwundert zu mir hinüber. Ich deutete in ihre Richtung, schüttelte den Kopf.
„Sie immer mit Ihrem Latein, Herr Studosius. Schön, dass Sie wieder auf sind. Hier ist ein Brief von einem Herrn von Gerstenberg.“
Als ordentliche Hausfrau versuchte sie den Stuhl mit der rechten Hand an den Tisch zu schieben. Der Widerstand kam unerwartet. Schnell stand ich auf. Nun versuchte sie es beidhändig mit aller Kraft und knallte den Stuhl vor die Tischkante. Die Lehne brach ab. Erschrocken wich sie zurück.
„Na, so was. Erst rührt er sich nicht, dann geht er kaputt. Egal, war sowieso nur der Ersatzstuhl vom Boden. Wir wussten ja nicht, ob Sie ihn noch brauchen, Herr Claudius. Mein Mann bringt Ihnen einen neuen. Der Brief.“
Sie übergab den kleinen Umschlag. Matthes hatte die rechte Hand vor dem Mund, um sein Grinsen zu verbergen. Nahm den Brief mit der anderen.
„Zahnschmerzen?“, fragte die Wirtin besorgt.
„Nein, nein, nur noch etwas unpässlich“, meinte Matthes.
„Ah, ja“, sagte die Wirtin verständnisvoll nicht verstehend.
„Wir sehen Sie aber wieder zum Abendbrot, nicht wahr?“
Matthes zögerte kurz.
„Ja, natürlich, ich muss etwas essen.“
„Das will ich meinen. Was soll Ihre Frau Mutter von mir denken, wenn Sie Weihnachten abgemagert nach Hause kommen?“
Damit war der Ernst der Lage unmissverständlich klargestellt. Die Wirtin entfernte sich. Wir lauschten den gewichtigen Schritten. Hörten die Treppe unter der Belastung ächzen. Eine Tür knallte. Dann ertönte die gedämpfte, aber noch immer nicht zu überhörende Stimme der Wirtin:
„Karlimus! Wo steckst du? Der Herr Studosius von oben links braucht ’n neuen Stuhl.“
Wir sahen uns an und Matthes prustete los. Auch ich musste lächeln. Nach einiger Zeit waren wieder Tränen abzuwischen, die Nase zu schnäuzen.
„Wie geht das?“, fragte er schließlich.
„Es geht eben. Der eine sieht, der andere nicht. Die Entscheidung liegt bei mir.“
„Und du siehst immer so aus?“
Ich holte schon Luft, um den Ursprung meines Aussehens zu erklären, aber dann – es war eine Augenblicksentscheidung ganz nach Gefühl:
„Nein, ich kann in vielerlei Gestalt erscheinen. Wollte dich nicht mehr verwirren als nötig. Willst du den Brief nicht öffnen?“
Matthes riss ihn auf.
„Eine Einladung. Gerstenberg wird morgen Abend bei der Teutschen Gesellschaft aus seinen ‚Tändeleyen’ lesen.“
„Gehst du hin?“
Er seufzte.
„Ich war mehr als einen Monat nicht mehr bei den Treffen. Gerstenberg habe ich seit dem Sommer nicht mehr gesehen.“
„Nimm Josias mit“, schlug ich vor.
Überrascht schaute er mich an. Dann zeigte sich vorsichtig ein Lächeln. Matthes nickte.
„Ja, vielleicht sollte ich Jos mitnehmen. Das könnte launig werden.“
Er erinnerte sich an irgendetwas aus ihrer gemeinsamen Zeit. Sein Lächeln vertiefte sich.
„Wirst du wiederkommen?“
„Wenn ich darf?“
„Nun, Freund Hain, ein Freund, der sich in der Not zeigt, ist auch zu besseren Zeiten willkommen.“
„Gut, abgemacht.“
Ich hielt ihm die Hand hin. Erst betrachtete er sie wie ein fremdes Wesen. Dann schlug er ein.