6 - Ob und wie weit Gott ...
Ob und wie weit Gott den Tod des Menschen bestimme
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Wenn die Vollkommenheit des Ganzen es erforderte, dass ein gewisser Mensch zu der bestimmten Zeit sterbe, warum musste er denn unter so ängstlichen Verzuckungen sterben? Warum ward sein Körper nicht so gebaut, dass er zu der bestimmten Zeit aufhörte zu leben? Sollte GOTT seine Geschöpfe, die seine Hand zu ihrer eignen Glückseligkeit schuf, unter so schrecklichen Empfindungen können sterben sehen? Kommen Sie mit zu dem Todbette eines Jünglings, ach, sehen Sie meinen Bruder sterben, Sie werden überzeugt zurückkehren. Wenn wir uns ihm nähern, hören wir ihn schon von ferne ängstlich röcheln, und itzt, welche schreckliche Szene! Tod ist im entstellten Auge, Tod auf der blassen Stirne, und in jeder verzuckten Miene, Tod. Er ringt die Hände, Todesangst schwellt ihm die Brust auf, er sieht mich starr an, da seine Zunge keine Worte mehr stammlen kann, und fordert in diesem Meer von schrecklichen Empfindungen, darin er von allem verlassen zappelt, meine brüderliche ihm so gewohnte Hülfe auf. Jeder Strahl aus seinem gebrochenen Auge ist ein wiederholtes flehendes Gebet, und eine trostlose Klage über meine Fühllosigkeit. GOTT, wie schrecklich ist es hier ein Mensch zu sein, entweder mache mich zum Felsen, oder ist es möglich, dass ein Mensch durch seinen Tod das Leben seines Freundes erhalten kann, o so lass mich den Tod aus seinen Adern in mich trinken, und an seiner durch meine freiwillige Tat itzt freier atmenden Brust sterbend, ein Opfer für sein Leben bringen. Ach, von allem, von mir verlassen, will er sich selbst helfen, er schlägt sich auf die Brust, und will den Tod, der itzt seine letzte Grausamkeit erschöpfet, herausreißen. Allein vergebens, er erstarret unter seiner grausamen Hand. Woher diese schreckliche Krankheit? Von ebendem, der ihm den Trieb zum Leben gab? Von ebendem, der ihm die starke Natur gab, ihr zu widerstehen? Ferne sei es von uns, dieses von dem gütigsten Vater zu glauben. Nein, GOTT, nein, du bestimmtest den Tod nicht. Ich bin unglücklich, aber du unschuldig, ich bekenne es dir, du bist unschuldig, es war dein Wille nicht.
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Nur zwei Tage blieben Matthes nach Josias’ Tod, seine Rede für die Trauerversammlung zu schreiben. Kein Wunder, dass sie nicht ganz logisch ausfiel. Dennoch ist sie sein erstes literarisches Lebenszeichen. Sie wurde bei einem Herrn Michael Marggraf in Jena gedruckt.
Glücklich war ich nicht mit der Rede. Klar, er stand unter Schock. Und dass man mir alle Schuld in die Schuhe schiebt – geschenkt. Dennoch: Ich hatte das Bedürfnis, die Dinge klarzustellen.
Zwei Wochen beobachtete ich Matthes von morgens bis abends. Was nicht schwer war, weil er sein Zimmer kaum verließ. Die Pocken waren längst überwunden. Die Aufregung um Todesfall und Trauerfeier ausgeschlafen. Doch Matthes rührte sich nicht aus dem Bett.
Entgegen meinen Gewohnheiten tauchte ich nicht einfach spontan bei ihm auf. Ich versuchte mich vorzubereiten. Fragen vorwegzunehmen, mir Antworten zurechtzulegen. Auch diese Strategie entsprang einem Gefühl. Einem Gefühl der Wichtigkeit meines nächsten Auftritts.
Die Wirtsleute hatten das zweite Bett aus dem Zimmer herausgenommen. Stattdessen stand ein ramponierter Tisch samt Stuhl dort. Der Stuhl war ein handwerkliches Wunder. Keines der Beine war so lang wie das andere. Ich setzte mich.
Die Stuhlbeine machten das Geräusch, das Stuhlbeine auf einem Holzboden machen, wenn sie nach eifriger Suche ein Gleichgewicht finden. Matthes lag mit dem Gesicht zur Wand auf dem Bett. Die Augen geschlossen. Aber er schlief nicht. Das Geräusch erschreckte ihn, er drehte sich um, und noch einmal durchzuckte ihn ein Schreckblitz. Es gab also Hoffnung.
„Sind Sie gekommen, mich zu holen?“
„Nein, Matthias, wenn du mich fragst, hast du noch ein langes Leben vor dir.“
Diese Auskunft arbeitete in ihm.
„Es ist also vorherbestimmt?“
„Das kann ich nicht sagen. Es ist nur ein Gefühl, das auf Erfahrung beruht. Auf langjähriger Erfahrung.“
Matthes verdaute auch dies.
„Sie sind wirklich …?“
„Ja, ich bin wirklich … der Tod. Für dich Freund Hain, wenn du magst. Das ist netter, unverfänglicher. Man denkt dabei nicht gleich ans Äußerste.“
Er schwieg. Dann rannen Tränen seine Wangen hinab. Ich musste kein Gedankenleser sein, um zu wissen, an wen er dachte. Schließlich holte er ein Taschentuch hervor. Ein sehr feuchtes Taschentuch. Wischte sich die Tränen ab und schnäuzte sich.
„Wenn Sie mich nicht holen, warum sind Sie dann gekommen?“
Ich war vorbereitet.
„Punkt 1: deine Rede.“
„Sie ergibt keinen Sinn.“
„Was?“
Und da ging meine Vorbereitung den Bach hinunter. Wie ein Papierschiffchen. Matthes setzte sich auf.
„Ich weiß, aber ich konnte nicht anders. Es war so wenig Zeit, die Dinge zu durchdenken, ihnen auf den Grund zu gehen. Also habe ich das Mittel genutzt, von dem hier so ausgiebig gepredigt wird: die Vernunft! Ich sezierte und setzte wieder zusammen, ich stellte Thesen auf und zog logische Schlussfolgerungen. Und wohin hat mich das gebracht?“
Plötzlich war nichts mehr zu sehen von der Lethargie, die ihn zwei Wochen zu Bett gelegt hatte.
„Ich habe mit äußerster Vernunft erklärt, dass Gott nur für die guten Dinge zuständig ist, und die weisen Gelehrten haben andächtig genickt. Vernunft! Ha! Wer sind wir, dass wir mit unserer Vernunft Gottes Wege erklären könnten? Es gibt das Schlechte und das Böse in der Welt, wie kann es dies ohne Gottes Willen geben? Ist es nicht vielleicht so, dass wir daraus lernen sollen, aber zu dumm dafür sind? Vor nunmehr über eintausendsiebenhundert Jahren hat er seinen eigenen Sohn geopfert. Und haben wir daraus gelernt? Muss Gott uns nicht wie Vater und Mutter zugleich unendlich lieben, obwohl wir nicht dazulernen? Vernunft! Wir klammern uns an äußere Geschicklichkeit und vernachlässigen das Innere, das Göttliche in uns. Nach dieser Rede habe ich mich sieben Tage lang gequält. Ich wusste, sie war falsch, die ganze Vernunft hohl. Und dann, als ich zu erschöpft zum Denken war, schlief ich ein, und als ich aufwachte, da war mir mit einem Schlag alles klar. Statt der Vernunft hinterherzulaufen, mit wohlgesetzten Worten meine Rede zu präparieren, hätte ich beten und frei reden sollen. Frei!“
„Dann verstehe ich dich nicht. Wenn du zu den richtigen Schlussfolgerungen gekommen bist, warum entziehst du dich dem Leben?“
Falsche Frage. Wieder sackte alles Lebendige in ihm zusammen. Traurig blickte Matthes mich an. Leise, fast flüsternd sagte er:
„Das sind alles nur Worte. Doch was sind Worte wert? Sie bringen mir Jos nicht zurück. Es ist aus. Selbst seinen Tod habe ich entweiht, indem ich ein falsches Kunststückchen vorführte. Jetzt bin ich zur Wahrheit vorgedrungen, nur was habe ich davon? Auch sie wird Jos nicht zum Leben erwecken. All die vielen schönen Worte sind nichts wert, denn ich kann sie nicht tauschen gegen eine einzige lebendige Umarmung mit meinem Bruder.“
Er brach in Tränen aus. Und wenn ich sage, er brach in den Tränen aus, dann meine ich, er brach! in Tränen aus. Ein verzweifeltes Schluchzen schüttelte ihn.
Ich stand auf. Setzte mich aufs Bett. Legte meinen Arm um ihn. Sein Kopf sank an meine Brust. Und da erst wurde mir bewusst, dass ich einen Menschen berührte. Nie zuvor hatte ich einen Menschen berührt. Der Schnitt macht dies nicht notwendig. Ich fühlte an meiner Hand seine Schulter, an meinem Arm seinen Rücken, an meiner Brust sein Gesicht. So also fühlte es sich an, wenn ein Mensch einen Menschen berührt. Es war ein gutes Gefühl. Mein Hemd wurde nass.