52 - Die Sternseherin Lise
Die Sternseherin Lise
Ich sehe oft um Mitternacht,
Wenn ich mein Werk getan
Und niemand mehr im Hause wacht,
Die Stern am Himmel an.
Sie gehn da, hin und her
zerstreut
Als Lämmer auf der Flur;
In Rudeln auch, und aufgereiht
Wie Perlen an der Schnur;
Und funkeln alle weit und breit,
Und funkeln rein und
schön;
Ich seh die große Herrlichkeit,
Und kann mich satt nicht
sehn ...
Dann saget, unterm Himmelszelt,
Mein Herz mir in der Brust:
»Es gibt was Bessers in der Welt
Als all ihr Schmerz und
Lust.«
Ich werf mich auf mein Lager hin,
Und liege lange wach,
Und suche es in meinem Sinn,
Und sehne mich darnach.
Unterschätze niemals eine Frau. Diese letzte Lektion sollte ich noch lernen. Nach Matthes’ Tod schaute ich bei Rebekka jahrelang immer wieder vorbei. Die ganze Zeit bewahrte sie ein Geheimnis. Während ich manchmal nahe dran war, meines zu lüften.
Sie wohnte weiterhin im Haus an der Lübschen Landstraße in Wandsbeck. An Gesellschaft hatte Rebekka keinen Mangel. Die Kinder mit ihren Ehemännern oder Ehefrauen samt Enkelkindern besuchten sie nicht nur zu den Festtagen. Und es kamen Menschen, die den Dichter Matthias Claudius erst spät entdeckt hatten. Sie ließen sich erzählen, was für ein Mensch er gewesen war. Matthes hätte sicher seinen Spaß gehabt mit manch einem Gast, der zunächst vor Ehrfurcht kaum den Mund aufbekam.
Rebekka empfing jeden Besucher mit gleicher Wärme. Sie erzählte gern von den alten Zeiten. Etwas Wehmut war dabei. Aber Freude und Stolz überwogen, wenn sie sich der vielen gemeinsamen Jahre erinnerte. Auch bei meinen Besuchen kam das Gespräch irgendwann immer auf Matthes. Nur über unsere tiefsten Geheimnisse, darüber redeten wir in all den Jahren nicht.
Schließlich kündigte die Kraft Rebekkas nahendes Ende an. Ich musste nicht lange nachdenken: Ich wollte ihr die gleiche Möglichkeit geben wie Matthes, meine Gestalt zu bestimmen. Was natürlich erforderte, dass ich meine Identität preisgab. Etwas länger grübelte ich darüber nach, wie ich es ihr sagen sollte. Der direkte Weg schien mir der beste.
Es war ein heißer Sommertag. Bis tief in die Nacht musste ich warten. Erst dann kamen alle im Haus zur Ruhe. Ich erschien als Opa Nikolaus in ihrer Schlafkammer, setzte mich. Nebenan schlief Tochter Rebekka. Die Töchter hatten sich in den letzten Tagen beim Dienst an ihrer Mutter abgewechselt.
Ich wartete. Sie würde aufwachen. Wer dem Ende nahe ist, der spürt mich. Langsam regte sich Rebekka. Sie schlug die Augen auf. Schloss sie wieder. Dann schaute sie mich an.
„Herr Schneider?“
Ich legte den Zeigefinger auf die Lippen. Ihre Augen wurden größer.
„Ist es so weit, … Freund Hain?“
„Bitte?“
„Sie sind doch Freund Hain, oder?“
„Ja, aber … woher … aber ich bin nicht deshalb, ich bin …“
Ich war völlig perplex. Wieder mal hatten sich alle Vorüberlegungen als hinfällig erwiesen. Rebekka setzte sich mühsam auf und lächelte.
„Sind Sie immer so durcheinander, wenn Sie die Nachricht überbringen?“
„Nein, nein, ich bin nur überrascht, dass du weißt, wer ich bin. Eigentlich wollte ich genau das offenbaren.“
„Deshalb sind Sie gekommen und nicht weil …?“
„Ja, genau. Das wollte ich gerade sagen. Aber nun sprich: Woher weißt du?“
Rebekka setzte zu sprechen an, doch dann sagte sie nur mit halberstickter Stimme: „Moment, bitte.“
Sie atmete einige Male tief ein und aus.
„So, jetzt geht es besser. Ja, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt, habe ich von Anfang an geahnt. Sie erinnern sich, wie Sie mich zu Matz lotsten? Als ich mit ihm wegging vom Haus, habe ich Sie am Fenster gesehen. Was seltsam war. Nicht weil Sie behauptet hatten, nach Hamburg zu müssen, sondern weil Sie so schnell gar nicht zu Matz Haus gekommen sein konnten, ohne dass ich Sie gesehen hätte.“
„Ungeschickt von mir, aber nur ein Verdacht, oder?“
„Ja, ich habe es auch bald vergessen, weil ich mir das nicht erklären konnte. Erst später erinnerte ich mich wieder daran, als Sie an dem Morgen vor meiner ersten Geburt mit Matz sprachen. Er dachte, ich schliefe. Aber Matz war in jener Nacht so nervös, dass er mich damit ansteckte. Und als er morgens in den Garten ging, habe ich ihm nachgeschaut und dann sah ich Sie. Ich öffnete das Fenster ein wenig und lauschte.“
„Das war, als Matthes dachte, dass du stirbst?“
„Ja.“
„Dann hast du es die ganze Zeit gewusst? Aber … das kann doch nicht sein. Du warst immer freundlich, immer gut zu mir. Drei Kinder habe ich dir genommen und schließlich Matthes. Und nie habe ich irgendeinen Groll bei dir gespürt.“
„Herr Schneider, Freund Hain, Sie können doch nichts dafür, oder? Es liegt alles in Gottes Hand. Sie sind nur der Bote. Ich habe auch gesehen, wie Sie gelitten haben. Warum sollte ich Ihnen böse sein?“
Ich schaute sie erstaunt an. Diese Frau hatte wahrlich Größe.
„Matthes hat es auch gewusst und trotzdem …“
„Ach, Männer … Wir brauchen sie. Gott hat sie nun mal so geschaffen, wie sie sind, und Matz war schon ein ganz besonderer Mann, nur schießen sie manchmal übers Ziel hinaus.“
Ja, im Überszielhinausschießen waren Männer große Klasse. Und oft genug schossen sie dabei auf andere Männer. Ich betrachtete die alte Dame, die mal ein junges Mädchen namens Rebekka gewesen war.
„Nun tut es mir doppelt leid, dass ich dich bald verliere.“
„Es ist nicht mehr lang?“
„Ja, Rebekka …morgen Abend.“
Sie hatte gewusst, dass es zu Ende geht. Trotzdem: Ein konkreter Termin – das musste sie erst verkraften. Doch sie fasste sich schnell.
„Dann werde ich meinen Matz also bald wiedersehen.“
Ich zeigte keine Reaktion.
„Oder?“
„Ganz ehrlich, Rebekka: Ich weiß es nicht. Ich tue in dieser Welt, was ich tun muss. In alles Andere habe ich keinen Einblick. Ich weiß nicht mal, wer mich beauftragt hat. Das war etwas, was Matthes eine Zeit lang nicht akzeptieren wollte.“
„Sie können mir also keine Hoffnung machen?“
„Ich will dich nicht mehr belügen. Hier zählt allein der Glaube, dass es so ist, wie du es dir wünschst. Tatsächlich bin ich schlechter dran: Ich weiß, dass ich dich genau wie Matthes nie mehr sehen, nie mehr sprechen werde. Und das macht mir zu schaffen. Warum kann ich am Leben teilnehmen, Freunde ge-winnen, wenn ich selbst dafür sorgen muss, sie zu verlieren?“
Rebekka nickte sinnend.
„Möchten Sie eine Antwort darauf?“
„Wenn du eine hast.“
„Ich kann es nicht wissen, ich kann nur glauben, und ich glaube, Gott hat eingesehen, dass Sie nicht komplett sind, bevor Sie nicht erfahren haben, was Sie den Menschen nehmen, wenn Sie einen der ihren sterben lassen.“
Ich starrte sie ungläubig an.
„Wenn du nicht die erstaunlichste Frau auf Erden bist …“, sagte ich kopfschüttelnd.
Die alte Dame lachte und bekam einen Hustenanfall. Nebenan regte sich Tochter Rebekka. Die Tür ging auf.
„Was ist, Mama? Warum hast du dich aufgesetzt?“
Rebekka hustete noch mal, wobei sie kurz zu mir hinüber sah. Ich schüttelte den Kopf. Sie verstand.
„Es ist alles in Ordnung, mein liebes Kind. Ich bin aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Da habe ich an alte Zeiten gedacht. Reichst du mir bitte ein Glas Wasser?“
Tochter Rebekka erfüllte ihren Wunsch. Zum Abschied gab sie ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn.
„Soll ich die Tür auflassen?“
„Nein, du kannst beruhigt schlafen. Ich fühle mich nun auch wieder müde und werde sicher gleich einschlummern.“
Ein letztes Winken, Rebekka schloss die Tür hinter sich. Ihre Mutter schaute mich neugierig an.
„Wie ist das möglich?“, flüsterte sie.
„Es ist, wie es ist“, flüsterte ich zurück. „Im Normalfall sieht mich nur der Sterbende. Doch ich kann in jeder Situation entscheiden, wer mich sieht.“
„Und Sie erscheinen immer in dieser Gestalt?“
„Darauf wollte ich zu sprechen kommen. Dies ist die Gestalt, die ich gegenüber Matthes angenommen habe. Ich kann jedoch jede andere Gestalt annehmen, nur nicht die von Lebenden.“
„So ist das also. Wissen Sie, Freund Hain, die Sache hat einen Fehler. Selbst wenn ich nicht gelauscht hätte, mit der Zeit wäre mir sicher aufgefallen, dass Sie keine natürliche Erscheinung sind.“
„Wie das?“
„Wie lange kennen wir uns? Es sind 60 Jahre, nicht wahr?“
„Wahrscheinlich.“
„Und in dieser Zeit ist Ihre Erscheinung nicht einen Tag älter geworden!“
„Oh“, vermochte ich nur zu sagen.
„Die Kinder haben es nicht bemerkt, weil Sie in ihren Augen immer ein älterer Herr waren. Und die meisten haben Sie in den letzten zwanzig Jahren kaum gesehen. Nur meine Tochter Rebekka fragte letztens, wie alt eigentlich der Herr Schneider sei. Sie fand es erstaunlich, dass Sie immer noch so rüstig sind, obwohl Sie doch eigentlich viel älter sein müssten als ich.“
„Deine Tochter hat sich deinen Namen verdient. Sie kommt ganz nach dir. Was hast du gesagt?“
„Die Wahrheit. Ich weiß nicht, wie alt Sie sind.“
„Ja, niemand weiß das. Ich auch nicht. Aber das mit dem Altern, dumm von mir. Die Gestalt ist offensichtlich für so einen Fall nicht gedacht. Eigentlich dient sie nur dazu, die Furcht vor dem Tod zu nehmen. Womit ich beim Anlass meines Besuches wäre: In welcher Gestalt soll ich dir erscheinen, wenn es so weit ist?“
„Wären Sie mir gram, wenn ich mir eine andere Gestalt wünsche als jene, die ich kenne?“
„Nein, natürlich nicht. Deshalb frage ich ja.“
„Gut, ich möchte, … dass Matz mich in den Himmel führt.“
Ich lächelte.
„So sei es.“
Wir schwiegen kurze Zeit. Es war alles gesagt. Blieb nur noch, Abschied zu nehmen.
„Nun denn“, setzte ich an. „Ich werde jetzt verschwinden. Weiß gar nicht, wie ich es sagen soll. Ich bin unglücklich, dich zu verlieren. Ich bin glücklich, dich gekannt zu haben. Wenn es nach mir ginge …“
„Es ist gut so, Freund Hain. Nehmen wir Abschied. Bis auf eine kurze Zeit waren Matz und ich darin immer einig: Sie sind unser bester Freund.“
Wir reichten uns die Hände. In ihrem Blick sah ich etwas, das ich nicht oft zu sehen bekomme. Ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll, also nenne ich es – Liebe.
Am folgenden Abend hatte die Kraft das Kommando. Rebekka lag erschöpft im Bett, die Augen geschlossen und nur flach atmend. Um sie herum saßen ihre Kinder. Diesmal waren wirklich alle gekommen. Von der ältesten Tochter, Caroline, die nun auch schon eine alte Dame war, bis zum jüngsten Sohn Franz.
Zusammen mit ihnen wartete ich auf die Vollendung der Kraft. Kurz bevor es so weit war, nahm ich wie versprochen Gestalt an. Rebekka spürte meine Anwesenheit, schlug die Augen auf. Die Kinder wurden aufmerksam. Sie lächelte.
„Matz“, sagte sie.
Zärtlich erwiderte ich ihr Lächeln und schnitt.
ENDE