Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

51 - Was nun?

 

Was nun? Matthes hatte mit dem Leben abgeschlossen. Ich nicht. Sollte das wirklich alles gewesen sein? Nicht mal 75 Jahre von der Wiege bis zur Bahre? All das Hoffen und Sehnen. All die Freude und das Glück. All die Trauer und die Tränen. Menschen, die kamen und gingen. Und kein Bremsen und kein Halten, nur Fließen und Drängen. Wie konnte ein menschliches Leben so vorbeirauschen und gleichzeitig so wichtig sein?

Ich wusste, es würde nicht wieder passieren. Das mit Matthes und Rebekka. Ich würde unter den vielen Millionen, den Milliarden Menschen allein sein. So wie vorher. Aber warum konnte ich am Leben teilnehmen, wenn doch alles sein würde wie zuvor? Nur schlimmer, denn ich verlor etwas. Vorher hatte ich es nie vermisst, weil ich es nie besaß: Freundschaft. Liebe.

Gott war kein Trost. Obwohl Matthes sehr überzeugend sein konnte. Fast hätte ich sie geglaubt, die Geschichte von der Kraft und Gott. Doch schon die Erinnerung an die Bibel reichte. Herr Gott war eine menschliche Schöpfung. Fast wurde ich zornig, dass Matthes all sein Hoffen auf dieses Hirngespinst setzte.

Gedankenlos schnitt ich, wo die Kraft mich hinrief. Ich würde ihn verlieren. Auf immer und ewig. Sollte ich es hinauszögern? Oder schnell beenden? Die Kraft herausfordern? Oder mich fügen?

Der letzte Tag brach an. Die Kraft wuchs unbarmherzig, kannte kein Zögern und – kein Eilen. Wie ich geschätzt hatte, würde der Schnitt zwischen zwei und drei am Nachmittag fällig.

Matthes auf dem Sterbebett war umgeben von Frauen. Rebekka natürlich. Caroline war dort. Auguste, Trinette und noch mal Rebekka saßen dabei. Carolines Tochter Agnes erlebte zum ersten Mal den Tod eines Menschen. Nur die Söhne fehlten. Sie hatten sich nicht frei machen können von ihren Verpflichtungen.

Gegen Mittag ließ Matthes ein letztes Mal die Verbände wechseln. Er hatte sich wund gelegen. Zwischendurch wurde gebetet. Alles wartete auf mich. Matthes hatte angekündigt, zwischen zwei und drei Uhr zu sterben. Das war nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich war, dass es tatsächlich so kommen sollte.

Ich hatte einen Entschluss gefasst: Ich wollte der Kraft trotzen. Einzig wenn Matthes deshalb leiden müsste, würde ich nachgeben.

Nachdem ich mich entschlossen hatte, schien sich das Universum zu verlangsamen. Die Zeit schlich. Sekunde. Um Sekunde. Dahin.

Es wurde halb drei. Die Kraft stand kurz vor dem Maximum. Für die anderen unsichtbar erschien ich Matthes zum letzten Mal als Opa Nikolaus. Mit einem leichten Nicken begrüßte er mich.

Die Kraft erreicht ihr Limit. Ich schnitt nicht. Ein Sog setzte ein. Ich blieb standhaft. Der Sog der Kraft wurde stärker. Ich zitterte am ganzen Körper. Matthes schien keine Schmerzen zu haben, sah mich nur verwundert an mit seinen feinen blauen Augen.

Der Sog wurde mächtiger. Ich vibrierte, aber ich schnitt nicht.

Und dann sagte Matthes: „Helft mir Gottes Güte preisen.“

Ich hätte darauf gefasst sein müssen. Doch in diesem Moment schrie ich innerlich auf: Nein, Matthes, nicht Gott, ich halte dich am Leben! Diese winzige Ablenkung reichte der Kraft, um meinen Widerstand zu brechen. Matthes konnte noch sagen: „Gott seg…“ und ich schnitt.

Sein Mund stand halb offen. Rebekka und die Töchter schauten irritiert. Dann setzte die Erkenntnis ein:

Matthias Claudius

war tot.

Ich entfernte mich völlig erschöpft und gleichzeitig wütend. So viel Kunstfertigkeit hatte ich jahrelang darauf verwandt, den letzten Augenblick so friedvoll wie möglich zu gestalten. Für jene, die starben und jene, die sie begleiteten. Aber bei meinem einzigen Freund genügte eine winzige Ablenkung und – ich schnitt ihn mitten im Wort.

Niemand fand das seltsam oder unwürdig. Weder Rebekka noch die Kinder. Nie habe ich gehört, dass Matthes nicht voller Würde gegangen sei. Aber ich – ich wusste, ich hatte es vermurkst. Wäre ich nicht so starrsinnig gewesen. Oder hätte mir dieser verfluchte Gott nicht ins Handwerk gepfuscht. Matthes wäre wie ein Dichter dahingegangen. Und nicht wie ein Depp, der seinen letzten Satz nicht zu Ende bringt.


Kommentar des Autors:

Die Darstellung des letzten Tages von Matthias Claudius folgt den Erinnerungen seiner Enkeltochter Agnes einschließlich des nicht vollendeten Satzes. Wie zu Anfang versprochen, schließt sich hier der erste Kreis. Freund Hain gibt in der Einleitung die Gedankengänge des Gedichtes „Der Mensch“ wieder, an dem er mit den beiden Schlusszeilen beteiligt war.