Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

50 - Hebe deine Augen auf zu den Sternen

 

Vom Vaterunser

...
Hebe deine Augen auf zu den Sternen, und siehe: wie sie weit und breit funkeln, größer und kleiner, hinter- und nebeneinander; und wie sich dies herrliche Schauspiel in die Ferne verliert, und weiter und weiter in Unabsehlich fortgeht! – Aber es kann doch nicht ohne Ende so fortgehen; es muss doch irgendwo eine Grenze sein, und etwas anders kommen. – Worin schwimmt das ungeheure Weltall; und welche Wellen bespülen seine unermesslichen Gestade? – Was ist da, wo die Welt aufhört, und rundum die letzten Grenzsterne stehen? – Fängt da der Himmel, in dem unser Vater ist, an? – Oder ist der Himmel in allem und durch alles? – Unser Vater, wie ist er in der Welt, wo die Haare auf unserm Haupte gezählet sind? – Wie ist er außer der Welt, durch die Unendlichkeit? – Und was ist in sich sein großes heiliges Wesen? – –

Frage so in dir – und du verstummst, und beugst die Kniee. ...

Zu Rebekkas Geburtstag mobilisierte Matthes noch mal alle Kräfte. Doch bald verließen sie ihn bis auf die eine, die ihn zugrunde richtete. Vor dem Abendessen verabschiedete er sich von den Gästen und ging zu Bett. Danach stand er nicht mehr oft auf.

Einige Wochen bevor er starb, ließ Matthes sich überreden, nach Hamburg zu ziehen. Ins Perthes-Haus. Caroline wollte sich um ihn kümmern. Rebekka sollte entlastet werden. Auch ein Arzt sei in Hamburg schneller zur Hand. Matthes wusste: Das alles würde nichts mehr nützen. Er wäre lieber in Wandsbeck geblieben. Aber um Rebekka willen ließ er es geschehen.

Für mich war das keine gute Nachricht. Ich wollte mit ihm noch so viel wie möglich beisammen sein. Allein. Nicht als Herr Schneider im Kreise der Familie. Mir blieb nur die Nacht.

Matthes hatte sich im Salon am großen Fenster gebettet. Tagsüber beobachtete er die Schwäne auf der Binnenalster. Nachts betrachtete er die Sterne. Er schlief viel, aber unregelmäßig. Ich musste warten. Die Zeit lief. Aus lauter Verzweiflung besuchte ich das Perthes-Haus einmal als Herr Schneider. Ich wurde freudig begrüßt. Doch ich wollte nicht nur Freundlichkeiten austauschen.

Beinahe hätte ich die Hoffnung aufgegeben, noch mal mit ihm zu sprechen. Doch endlich war er eines Nachts wach und allein. Mein unvermitteltes Erscheinen ließ ihn zusammenzucken.

„Freund Hain, mit dem Hute auf dem Kopfe, das sagt mir, es ist noch nicht so weit.“

Ein Hustenanfall unterbrach ihn. Seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen.

„Sag mir, mein Freund, wirst du in dieser Gestalt erscheinen, wenn es so weit ist?“

„Wenn du es so wünschst: ja.“

„Ich darf mir deine Gestalt wünschen?“

„Ach, Matthes, ich wünschte, ich müsste mich gar nicht zeigen, aber wenn es sein muss: Ja, du kannst dir wünschen, wen du in deinen letzten Sekunden siehst.“

„Jos?“

„Natürlich, auch Josias wäre möglich.“

„Ihn noch mal wiedersehen …“

Matthes lächelte bei dem Gedanken an seinen Bruder.

„Weißt du, Freund Hain, ich verdanke ihm so viel. Ich verdanke ihm, dass ich bin und in vielen Teilen, was ich bin. Ich habe damals so sehr um ihn getrauert. Und doch ist er nun schon so lange bei Gott, während ich durch dieses Jammertal schreiten musste. Wäre es nicht besser gewesen, ich wäre damals gestorben? Das habe ich mich oft gefragt. Mein Glaube sagt mir: Ja, zeitig hinüber zu gehen, statt all den Versuchungen und den Kümmernissen ausgesetzt zu sein, das ist recht. Aber ist es nicht undankbar so zu denken? Hat Gott mich nicht ins Leben geschickt, um meinen Teil zu tun? Und habe ich nicht gehorsam zu warten, bis mein Tag gekommen ist? Ist nicht auch das recht? Doch wie kann beides recht sein? Ach, mein Freund, ich gehe, wie ich gekommen bin: kein bisschen schlauer.“

Nun wäre es an mir gewesen zu lächeln. Über die krausen Gedankengänge meines alten Freundes. Aber ich konnte nicht. Mir war ernst zumute.

„Matthes, bei allem Respekt für deinen Glauben: Du weißt nicht, was es für mich heißt, nicht zu leben. Ich wiederum weiß nichts vom Dasein bei Gott, aber was ich weiß: Zu leben, zu fühlen, sich zu freuen und zu trauern, das ist besser als nur Zuschauer zu sein und sei es von einer himmlischen Warte aus. Das hast du mir beigebracht.“

„Ist das so?“

Wieder packte ihn ein Hustenanfall, den er zu unterdrücken versuchte.

„Bring mir bitte ein Glas Wasser“, bat er mit halberstickter Stimme. „Dort drüben auf dem Tischchen steht eine Karaffe.“

Ich brachte ihm sein Glas Wasser. Erst nippte er vorsichtig, schluckte, dann trank er es in großen Zügen aus.

„Ah, jetzt ist mir besser. Hier stelle es bitte zurück. Wenn ich es auf dem Boden abstelle, wird mich Rebekka schelten, weil jemand darüber stolpern könnte.“

Ich tat wie geheißen. Dann sah ich fragend Matthes an.

„Ja, wo waren wir? Du sagst, ich hätte dir gezeigt, das Leben sei besser als das Nichtleben oder Nurzuschauen. Da mag in deinem speziellen Fall etwas dran sein, aber für uns Sterbliche, die wir uns nach Unsterblichkeit sehnen, sehe ich das nicht als bewiesen an. Was bliebe uns, wenn wir nicht glaubten an das göttliche Himmelreich? Salomo hat solche Menschen sehr eindrücklich beschrieben. Wer glaubt, das Leben sei alles, der will es in vollen Zügen auskosten. Die Selbstsucht kennt keine Grenze mehr, Gott wird nicht gefürchtet, die göttlichen Gebote missachtet. Nein, mein Freund, das ist ein Irrweg, der dir nur erstrebenswert erscheint, weil es dir am Glauben mangelt.“

Ich seufzte.

„Da wären wir also wieder.“

„Ja, guter Freund, da wären wir wieder. Du hast das Wichtigste im Leben nicht verstanden und sitzt darum todtraurig herum, statt dich mit mir zu freuen, dass ich es bald geschafft habe. Womit habe ich so einen Freund nur verdient?“

„Ach, Matthes, wenn du wüsstest, was ich …. Es ist das erste Mal, dass ich der Kraft ernstlich nicht folgen möchte. Und du streust noch Salz in die Wunde, kannst es gar nicht abwarten, hier wegzukommen. Was ist mit Rebekka? Was ist mit den Kindern?“

„Ah, ein Ablenkungsmanöver. Nein, mein Freund, das hilft dir nicht. Die Kinder sind versorgt, so weit es mir möglich war. Ich habe ihnen gegeben, was ich geben konnte. Rebekka und ich haben uns lange vorbereitet. Natürlich wird es ihr sauer werden, wir sind fast 43 Jahre zusammen gewesen, aber sie glaubt und sie weiß, dass dies nur ein Abschied auf kurze Zeit ist. Mag sie auch noch viele Jahre leben, die Ewigkeit, in der wir zusammen sein werden, wird uns für diese kurze Trennung entschädigen.“

Ich schaute Matthes an. Das war mir alles kein Trost. Ich wusste, ich würde nur die Erinnerungen haben, kein Leben mehr.

„Sieh mich nicht so an, Freund Hain. Auch du glaubst an Gott. Du glaubst nur, dass du nicht glaubst, dabei hast du längst verraten, dass du doch glaubst. So viel habe ich inzwischen verstanden.“

„Wie das?“

„Du sagst, du willst der Kraft nicht folgen, aber du musst, richtig?“

„Ja, leider.“

„Ich sage, es ist Gottes Wille, dass ich bald sterbe. Auch wenn ich es nicht wollte, ich müsste. Du glaubst an die Unabänderlichkeit der Kraft, ich glaube an die Unabänderlichkeit von Gottes Willen. Wir nutzen verschiedene Worte, meinen jedoch dasselbe.“

„Du meinst, die Kraft ist Ausdruck des göttlichen Willens und selbst wenn ich dies nicht glauben will, glaub ich es doch?“

„Genau, du kannst gar nicht anders als an Gott glauben.“

Jetzt musste ich doch lächeln.

„Also gut, ich gebe mich geschlagen. Gegen dich kann ich nicht gewinnen, genau so wenig wie gegen die Kraft. Du wirst mir wirklich fehlen, Matthes.“

„Sei getrost, Freund Hain, es wird sich jemand finden, mit dem du dich in Ehren messen kannst und sei es nur im Schachspiel. Doch zuerst wirst du Rebekka noch ein Stückchen begleiten, nicht wahr?“

„Ja, natürlich, ich werde nach ihr sehen. Brauchen wird sie mich kaum, sie hat Kinder und Enkelkinder zu Genüge. Aber vielleicht können wir Erinnerungen aufwärmen an den berühmten Dichter Matthias Claudius.“

„Meinst du, ich werde noch berühmt? Ich glaube, in einigen Jahren hat man mich vergessen. Doch das wird meinem Seelenheil nicht abträglich sein. Ich habe getan, was ich konnte, mein Haus ist gut bestellt und damit muss es genug sein.“

Matthes gähnte.

„Nun, mein Freund, ich glaube, ich brauche noch eine Mütze Schlaf. Wann werden wir uns wieder sehen?“

„Gibt es hier eine Uhr?“

„Dort drüben auf dem Sekretär. Hier, nimm die Kerze mit.“

Halb drei. Ich schaute Matthes an.

„Da ich annehme, dass man dich nun nicht mehr aus den Augen lassen wird, in etwa 60 Stunden.“

„Woher weißt du das so genau?“

„Matthes, ich bin, was ich bin, ich weiß, wann wem die Stunde schlägt.“

„Das war es dann mit uns beiden bis auf …?“

Ich nickte.

„Nun, es ist alles gesagt. Ein letzter Händedruck, Freund Hain, dann magst du in Frieden gehen.“

Ich reichte ihm die Hand. Matthes umfasste sie mit beiden Händen, schaute mir in die Augen.

„Danke“, sagte er. „Und komme, wie du bist, Jos sehe ich ja doch bald wieder.“

Ich wusste nichts zu erwidern, kein Schlusswort, kein gar nichts. Ich schaute nur in diese freundlichen blauen Augen. Matthes lächelte und ließ meine Hand los. Er sank in die Kissen zurück, seufzte wohlig auf und seine Augen schlossen sich.

„Ach, Freund Hain von der traurigen Gestalt, mache dich noch einmal nützlich und schicke mir deinen Bruder herein“, flüsterte er und war augenblicklich eingeschlafen.


Kommentar des Autors:

„Meinst du, ich werde noch berühmt?“ Die Frage mag etwas kokett wirken, weil Matthias Claudius auch nach 200 Jahren noch nicht vergessen ist, und doch werden damals einige Leute gesagt haben, als sie von seinem Ableben hörten: „Was, der lebte noch?“ Denn wie im Laufe der Geschichte geschildert, wurde Claudius zu seinen Lebzeiten ein Autor am Rande der Literatur. Auch gab es nur eine Minderheit von Lesetüchtigen und keine Massenmedien, die Stars produzierten, so dass sein „Ruhm“ äußerst bescheiden blieb. Das heißt nicht, dass es damals keine Stars gab. Dem Begräbnis von Klopstock 1803 in Hamburg sollen Tausende gefolgt sein. Doch wer, und das ist nicht gehässig gemeint, kennt heute noch Gedichte von Klopstock? Der Ruhm eines Dichters entscheidet sich nicht unbedingt zu seinen Lebzeiten.