5 - An den Tod
An den Tod
An meinem Geburtstage
Lass mich, Tod, lass mich noch leben! –
Sollt ich auch wenig nur nützen,
Werd ich doch weniger schaden,
Als die im Fürstenschoß sitzen
Und üble Anschläge geben,
Und Völkerfluch auf sich laden;
Als die da Rechte verdrehen,
Statt nach den Rechten zu sehen;
Als die da Buße verkünden,
Und häufen Sünden auf Sünden;
Als die da Kranken zu heilen,
Schädliche Mittel erteilen;
Als die da Kriegern befehlen,
Und grausam ihnen befehlen;
Der Helden Kriegskunst nichts nützen,
Um Länder weise zu schützen.
Tod, wenn sich diese nicht bessern,
Nimm sie aus Häusern und Schlössern!
Und wenn du sie nun genommen,
Dann Tod, dann sei mir willkommen.
Der Vorfall auf dem Herrenteich hatte die beiden Brüder noch enger aneinander gebunden. Gemeinsam gingen sie auf die Lateinschule in Plön. Gemeinsam zogen sie zum Theologiestudium nach Jena.
Matthes – ich sage immer Matthes –, damals war er noch Matthias für mich. Einer der Menschen, deren Leben ich verfolgte. Dass daraus mehr würde, war längst nicht entschieden. Den Namen habe ich mir von seinen Mitstudenten geborgt. Bei ihnen hieß er erst Matthes Evangelium – wegen seiner Neigung zum Predigen –, später nur noch Matthes; und dabei blieb ich.
Aber nun sei es: Matthes war nicht glücklich in Jena. „Bureaukraten des Glaubens“ nannte er seine Professoren. Josias nahm die Theologie leichter, zog seinen Bruder mit dessen Ernsthaftigkeit auf. Matthes blieb beim ursprünglichen Bibelglauben. Daraus eine Wissenschaft zu machen, war ihm zuwider. Das und seine Toleranz gegenüber Andersgläubigen sollten ihm auch später Probleme bereiten. Jetzt stritt er nur mit dem Bruder und – seinem Vater.
Pastor Matthias Claudius war stolz, dass beide Söhne ihm nachfolgen wollten. Zwar galt Jena noch als billige Universität, trotzdem musste die Familie auf manches verzichten. Die Schuhe wurden nicht mehr bei Johannes Thyßen in Heilshoop bestellt. Deren Bequemlichkeit hatte ihren Preis. Und die lang besprochene Anschaffung eines neuen Clavichords für die Musikabende der Familie musste noch warten. Doch unglücklich sehen wollte er seinen Sohn nicht.
Schließlich entschied eine immer wiederkehrende Brustfellentzündung. Matthes argumentierte, damit könne er den Pflichten als Pastor nicht nachkommen. Sein Vater akzeptierte. Ich schätze, diese Begründung war ihm lieber als weitere Debatten über Gott und Religion.
Matthes wechselte zu Jura und den Kameralwissenschaften. Eine eher trockene Angelegenheit, die auf Posten beim Staat vorbereitete. Ganz abwegig war die Wahl nicht. Matthes hatte außerhalb der Religion durchaus Sinn für Ordnung und Vorschriften. Viele Jahre später wurde er vom dänischen Kronprinz zum Revisor der Altonaer Species-Bank ernannt. Eigentlich ein Ehrenposten. Doch Matthes arbeitete sich ein und war in Altona nicht sehr beliebt. Ein Kompliment für einen Prüfer.
Die Brüder gingen nun getrennte Wege. Andere Vorlesungen, andere Professoren, andere Freunde. Sie teilten immer noch ihr Zimmer. Und wenn sie zusammenhockten, war es wie zuvor. Ihr Verhältnis hatte sich eingependelt wie bei einem alten Ehepaar. Nichts konnte sie mehr scheiden. Doch dann erkrankten beide an den Pocken.
Ich weiß nicht, warum ich damals in Jena zu ihm kam. Nein, falsch. Es gibt kein Warum-Darum. Ich hatte das Gefühl, ich sollte es tun. Also habe ich es getan. Manchmal mache ich mir schon Gedanken, doch letztlich treffe ich alle Entscheidungen so – nach Gefühl. Macht das jemand anders?
Im Haus, in dem die Brüder logierten, herrschte die Stille vor dem Tod. Eine horchende Stille, die stets eintritt, wenn jemand ernstlich erkrankt niederliegt. Die Kammer der beiden: Ich habe schon größere Gefängniszellen gesehen. Sie wurde sonst wohl nur an einen einzelnen Studenten vermietet. Jetzt stand links und rechts ein schmales Bett an der Wand. Dazwischen konnten gerade zwei ranke Jünglinge nebeneinander stehen.
Nun aber lagen die beiden. Links Matthes, rechts Josias, der fest schlief. Matthes döste zwischen Wachen und Schlafen. Ich blieb bei der Gestalt von Opa Nikolaus. Das sollte sich auch nicht mehr ändern bis auf ein einziges Mal. Meine Stimme suchte ich so sanft wie möglich klingen zu lassen, fast schon weiblich.
Ich stand am Fußende seines Bettes und sagte behutsam:
„Matthias.“
Keine Reaktion.
„Matthias.“
Er regte sich. Schlug die Augen auf. Und erschrak, als er mich sah.
„Wer sind Sie? Wie sind Sie hereingekommen?“
Auf Fragen hatte ich mich nicht vorbereitet. Was sollte ich sagen, wer ich war? Und wie war ich hereingekommen? War die Tür verschlossen? Warum? Wegen Ansteckung? Aber wenn sie zugeschlossen hatten, dann blieb nichts als die Wahrheit.
„Matthias, mich hemmt weder Schloss noch Riegel. Ich bin Freund Hain.“
Das musste erst mal sacken.
„Ich sterbe? Kommst mich zu holen?“
„Nein. Du wirst nicht sterben.“
Erleichtert seufzte er auf und wurde gleich darauf rot, knallrot. Genau in diesem Augenblick entschied es sich für mich. Diesem Menschen wollte ich nahe sein. Er richtete sich auf.
„Nicht Jos! Nimm mir nicht Jos!“
„Matthias, es liegt nicht an mir zu entscheiden, wer lebt und wer stirbt. Ich bin nur der Bote.“
„Bitte. Nicht Jos!“
„Hörst du mir nicht zu? Ich komme deinetwegen, ich meine, nicht deinetwegen, sondern deinetwegen. Verstehst du?“
„Nein.“
Zweifellos noch von den Pocken geschwächt, dachte ich damals. Ich merkte gar nicht, welch wirres Zeug ich redete. Das muss man sich mal vorstellen: Ich! war nervös.
„Matthias, ich bin erschienen, damit du dich verabschieden kannst. Von Josias. Ich werde morgen wiederkommen. Mehr kann ich nicht tun.“
„Aber es muss doch ... Jos darf nicht …“
„Mit wem redest du da?“, fragte Josias mit schwacher Stimme.
Ich löste meine Gestalt auf.
Matthes starrte dorthin, wo ich gerade noch gestanden hatte, ließ sich zurückfallen aufs Kissen.
„Matz?“
„Mit … mit dem Tod.“
Immer noch mit geschlossenen Augen auf dem Bett liegend grinste Josias.
„Sicher, Matz … ich hoffe, … hast ’n gutes Wort für mich eingelegt.“
Matthes schaute zu seinem Bruder hinüber. Sein Gesicht verzerrte sich. Doch er fing den Tränenausbruch ab.
„Natürlich“, sagte Matthes mit erstickter Stimme.
„Dann ... ist ja gut. Wie … wie fühlst du dich?“
„Besser. Hör, Jos, du musst auch wieder gesund werden.“
„Klar, … wenn du’s … schaffst, … schaff ich das …“
„JOS!“
„Oooh, schrei nicht so. Ich bin nicht … taub, weißt du?“
„Natürlich Jos, ich dachte nur … Jos, erinnerst du dich? Damals auf dem Teich?“
„Was für’n … ah, du meinst … im Teich.“
Wieder verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen.
„Damals habe ich gedacht, es wäre aus. Und dann sah ich deine Hand. Nie werde ich das vergessen, wie deine Hand von oben durchs Wasser schoss.“
„Jo, … irgendwer muss ja …“
Josias’ Stimme wurde kraftloser.
„Ich weiß, dass du das Boot ins Schaukeln gebracht hast – das wusste ich immer –, aber ich habe mitgemacht. Deshalb war es meine eigene Schuld, und du hast mir das Leben gerettet, Jos. Hörst du?“
„Jo …“
„Gib mir deine Hand, Jos. Vielleicht, … vielleicht kann ich diesmal dich retten.“
Immer noch mit geschlossenen Augen lächelte Josias. Langsam, sehr langsam schob er die rechte Hand vom Körper weg. Suchte Matthes’ Hand. Matthes hielt den linken Arm lang ausgestreckt. Sein Arm begann zu zittern. Dann trafen sich ihre Hände. Matthes griff zu.