Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

49 - Viele Jahre hatte Matthes geunkt

 

Viele Jahre hatte Matthes geunkt: Er würde nicht mehr lange auf Erden weilen. Bei seinem letzten Geburtstag war es kein Unken mehr. Er wusste, dass es der letzte war – bevor ich es ihm sagte.

Und er war nicht der einzige. Rebekka mühte sich, alle Kinder für diesen Festtag zu sammeln. Einzig Tochter Rebekka lebte noch im Elternhaus. Caroline war mit ihrem Mann Friedrich Perthes nach Hamburg zurückgekehrt. Matthes’ Lieblings­tochter Anna hatte es mit Max Jacobi bis nach Salzburg verschlagen. Trinette war bei Geibels in Lübeck angestellt und Guste … Guste saß irgendwo in Norddeutschland, führte einer alten Dame den Haushalt.

Bei den Söhnen sah es nicht anders aus: Fritz saß wieder in Lübeck als Prokurist. Der älteste Sohn Johannes war Pastor in Sahms, hatte bereits selbst Familie. Die beiden Jüngsten Ernst und Franz studierten mittlerweile in Berlin ebenfalls Theologie.

Letztlich fehlten beim Geburtstagsfest nur Trinette und Anna. Matthes ließ sich davon nicht beirren. Die fehlenden Kinder waren als Kreideportrait auf dem Tisch dabei. Dieser wurde gleich draußen aufgebaut. Das Augustwetter spielte mit und an Gästen würde kein Mangel herrschen.

Zum Frühstück blieb Familie Claudius noch unter sich. Aber den Rest des Tages gab es ein Kommen und Gehen. Die Nachbarn aus Wandsbeck, Besucher aus Hamburg und Gäste von viel weiter machten Matthes ihre Aufwartung.

Vor dem Haus kam es zu einer Volksversammlung. Zuerst hielten sich die Grüppchen feierlich gekleideter Menschen und der einfachen Leute aus dem Dorf strikt getrennt. Doch dazwischen rannten die Kinder herum. Es passierten kleinere Unfälle, Bengel mussten zur Ordnung gerufen, Opfer getröstet werden. Die Kinder präsentierten ihren Eltern neue Freunde. Mit der Zeit verwischten sich die Grenzen.

Nach dem Mittagessen mischte ich mich unter die Gäste. Bei diesem Auflauf würde ich kaum beachtet. Matthes begrüßte mich überschwänglich, seine Augen leuchteten – nicht nur des Rummels wegen.

„Freund Schneider, mein bester Freund Schneider, es ist mir eine Ehre, dich bei unserem kleinen Feste begrüßen zu dürfen. Labe dich an Speis und Trank. Nichts soll dir mangeln. Rebekka! Sieh mal! Ein Ehrengast.“

Rebekka löste sich aus einer Gruppe älterer Damen. Sie trug ein neues hellblaues Kleid. Es schien dem feierlichen Anlass angemessen, war aber gleichzeitig so praktisch geschnitten, dass sie es zukünftig alltags tragen konnte.

„Herr Schneider, schön, dass Sie gekommen sind.“

„Ein Gast mehr oder weniger scheint an diesem Tag keine Rolle zu spielen.“

„Nein, sagen Sie das nicht. Sie sind ein besonderer Gast, auch wenn heute wirklich so viele gekommen sind wie lange nicht mehr. Mein Matz ist eben auch ein Menschenfischer.“

„Mir scheint, dass auch eine Menschenfischerin am Werke war“, schob Matz ein. „Es ist höchst ungewöhnlich, dass zu einem gemeinen 74. Geburtstag so viel Volk zusammenläuft, oder?“

Rebekka lächelte nur.

„Wahrscheinlich wären noch viel mehr gekommen, wenn der Herr im Himmel ihnen für heute frei gegeben hätte“, legte Matthes nach. „Aber bald komme ich meine alte Freunde ja besuchen.“

„Matz!“

„Ja, mein Liebes?“

„Du sollst doch nicht immer …“

„Schon gut. Reden wir nicht von Besuchen, oder doch: Schau mal die Musikanten, mein Freund. Unsere beiden Jüngsten sind tatsächlich aus Berlin gekommen.“

Franz und Ernst fiedelten eine wilde Melodie für zwei Dutzend Kinder, die um sie herumsprangen. Auch viele der Gäste betrachteten die Szene. Musiker und Kinder hatten sich ganz im Spiel verloren. Als Matthes’ Söhne das Stück beendeten, gab es viel Applaus und „Bravo!“-Rufe. Die Musiker verbeugten sich tief. Einige der Kinder taten es ihnen nach, was wiederum Gelächter hervorrief.

„Komm, mein Freund“, sagte Matthes plötzlich. „Ich will mich etwas ausruhen, der Tag verspricht noch lang zu werden. Rebekka, richtest du den Neuankömmlingen aus, dass ich jeden gerne begrüßen werde, aber ich mich für ein Stündchen zurückgezogen habe?“

„Natürlich, Matz. Leg dich etwas hin. Zum Coffee werden wir dich herausrufen. Begleiten Sie meinen Mann, Herr Schneider?“

„Gerne, Festivitäten sind eh meine Sache nicht. Komm, alter Knabe.“

„Von wegen …“

Ruckartig erhob sich Matthes, fasste sich aber gleich aufstöhnend ans Kreuz.

„Na gut, ich streite es nicht mehr ab.“

Auf meinen Arm gestützt gingen wir langsam Richtung Haus. Besorgte Nachfragen von Gästen wimmelte Matthes ab. Alles sei in Ordnung. Nur ein Stündchen Ruhe für einen alten Mann.

Der Schlafraum lag nach hinten hinaus. Das Stimmengewirr der Gäste drang nur noch leise zu uns. Auch war es angenehm kühl dort nach der Hitze der mittäglichen Augustsonne.

Ächzend legte sich Matthes nieder, faltete die Hände über dem Bauch und schloss die Augen. Ich platzierte mich auf einem beistehenden Stuhl.

„Mir ist etwas schummrig“, begann Matthes. „Aber ich glaube, das kommt vom Wein, nicht vom Alter. Schön ruhig und frisch ist es hier. Der ideale Platz zum Sterben.“

Immer noch mit geschlossenen Augen lächelte Matthes. Dann öffnete er ein Auge.

„Oder?“

Ich schaute mich um, als ob ich diesen Raum zum ersten Mal sähe.

„Ja, wenn man wollte, könnte man hier. Aber will hier jemand?“

„Auf das Wollen kommt es nicht an. Was sein muss, muss sein. Und ich weiß, lange habe ich nicht mehr. Dies ist mein letzter Geburtstag, nicht wahr?“

Er sah mich nun forschend mit seinen blauen Augen an.

„Ich werde dir immer ähnlicher.“

Es half nichts. Darüber zu schweigen, ließ es nicht weggehen.

„Damit hat das nichts zu tun, wie du weißt. Aber du hast recht: Dies ist dein letzter Geburtstag. Die Kraft nähert sich ihrem Maximum.“

„Wann wird es so weit sein?“

„Dezember, eher Januar würde ich sagen.“

„Gut, kann ich Rebekkas 60. Geburtstag noch feiern, vielleicht noch ein Weihnachtsfest. Ich bin bereit.“

„Ich nicht“, sagte ich leise.

Matthes hob die Augenbrauen.

„Mach dir keine Sorgen. Ich habe vollstes Vertrauen in den Herrn und in dich. Auch für mich wird es ganz bestimmt nicht leicht, denn die letzten Tage sind es nie. Das habe ich oft genug gesehen. Aber der letzte Akt: Der Herr ist mein Hirte und du bist mein Freund, was soll da schief gehen?“

„Nichts, Matthes.“ Ich versuchte ein Lächeln. „Ich werde nur langsam sentimental, wenn ich daran denke. Das wird schon.“

„Sag ich doch, Freund Hain.“

Er schloss wieder die Augen und kurz danach hörte ich seine gleichmäßigen Atemzüge. Ich saß im Halbdunkel. Neben mir lag mein Freund. Ich würde ihn ein zweites Mal verlieren. Diesmal für immer.

Sein ganzes Leben hatte ich mitgelebt. Nicht nur zugeschaut, sondern selbst gefühlt, geweint und gelacht. Das würde vorbei sein. Es gab kein Zurück. Und ich musste den Schlusspunkt setzen, den letzten Schnitt. Warum? Ich wollte das nicht. Warum musste das so sein? Warum, warum, warum? Ich hatte keine Antwort. Nicht mal ein Gedanke wollte sich einstellen.

Einige Zeit saß ich nur da. Dann betrachtete ich Matthes’ Gesicht. Im Schlaf wie im Tod verliert ein Gesicht seine Maske. Und ohne Maske: Ja, er war erschöpft. Das Leben zog sich zurück. Die Wangen waren nicht mehr füllig, die Augen lagen etwas tiefer in den Höhlen. Die Konturen seiner Schädelknochen kamen hervor. Die Zeichen waren da, es wurde Zeit. Aber nicht heute. Nicht heute.

Mit einem Mal bemerkte ich, dass es gänzlich still geworden war. Von draußen drang kein Geplapper mehr herein. Ich lauschte. Nichts. Dann rief eine Stimme „Eins, zwei, drei“ und ein Gesang begann:

„Wo ist der Wandsbecker Bote?

Wo ist der Wandsbecker Bote?

Wo ist der Wandsbecker Bohoteee?

Coffee gibt’s und schöne Brote.

Coffee und schöne Brote.

Coffee und schöne Brote.

Coffee und schöne Brohoteee.

Wo ist der Wandsbecker Bote?“

Matthes erwachte, der Gesang fing wieder von vorne an.

„Oh, Gott, schnell, hilf mir hoch, Freund Hain, das hört sonst nicht mehr auf, wird bis Hamburg dringen und ganze Völkerschaften anlocken.“

Ich half ihm, sich aus dem Bett zu hieven. Matthes schlurfte zu einer Wasserschüssel hinüber, die auf der anderen Seite des Bettes auf einem Tischchen stand. Der Chor gewann an Lautstärke. Matthes schöpfte mit den Händen Wasser, tauchte das Gesicht in die Hände, nahm ein Tuch, trocknete sich ab.

„So, jetzt fühle ich mich wieder munter. Komm, mein lieber Freund. Wir werden sehnsüchtig erwartet.“

Wir gingen über den Flur zur Tür. Der Gesang wurde mächtig. Wir traten hinaus ins Freie. Ich schloss die Augen gegen die blendende Sonne. Der Gesang brach ab – und ein gewaltiger Applaus umtoste uns. Matthes und ich, wir sahen uns an: Was für ein Leben!a


Kommentar des Autors:

Ich weiß nicht, ob es damals offensichtlich war, dass Matthias Claudius seinen letzten Geburtstag feierte, doch er schildert in einem Brief an Trinette, dass tatsächlich fast alle Kinder da waren und auch sonst viel Betrieb an dem Tag war. Bei dem von den Gästen gesungenen Lied habe ich mich bei "For he’s a jolly good fellow“ bedient. Die Melodie stammt ursprünglich aus Frankreich und war zu diesem Zeitpunkt bereits seit über 100 Jahren bekannt und wurde 1813 sogar von Beethoven in einer Komposition verarbeitet.