Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

48 - Wie angekündigt ...

 

Wie angekündigt, zog Matthes mit Rebekka und Rebekka nach Kiel weiter. Sie quartierten sich nicht weit von Caroline bei einer Witwe ein. Caroline selbst hatte Guste dabei, und Ernst studierte in Kiel. Es gab wieder ein Familienleben. Provisorisch, aber genug, dass Matthes die Stadt kurzerhand in Klein-Wandsbeck umtaufte.

In Wandsbeck selbst kam der Krieg nun endgültig an. Das Dorf wurde preußisch-russisch besetzt, Hamburg belagert. Zum Glück war der zweitälteste Sohn Fritz zusammen mit Trinette rechtzeitig zu Hause eingetroffen. Sie verhandelten geschickt mit den Befehlshabern. Die einquartierten Truppen benahmen sich. Auf das Fällen der Bäume am Haus verzichteten die Soldaten freiwillig. Es kam immer wieder zu Unfällen, wenn es jemand versuchte. Irgendein Problem mit den Äxten.

Caroline brachte noch vor Weihnachten einen Jungen zur Welt. Die Kraft ließ ihm keine Chance und er starb nach wenigen Wochen. Diesmal musste ich Matthes zustimmen: Vielleicht war es besser so. Denn eins acht eins drei fand einen grausamen Abschluss.

Die französischen Truppen vertrieben an Weihnachten Hamburger Bürger zu Tausenden aus der Stadt. Die Belagerer konnten sie nicht aufnehmen. Obwohl die Hilfsbereitschaft im Umland groß war, schnitt ich viele im Niemandsland, erfroren oder verhungert.

Matthes nutzte Anfang des neuen Jahres einen Hilfstransport von Kiel nach Lübeck, um wieder näher an Wandsbeck zu sein. Lübeck war allerdings überfüllt mit Flüchtlingen aus Hamburg. Er musste sich mit seinen beiden Rebekkas ein kleines Zimmer teilen.

Ich konnte ihnen einen Hinweis geben, wo gerade etwas frei wurde. Dadurch verbesserte sich ihre Situation aber nicht besonders. Jetzt hatten sie mehrere Räume, mussten jedoch mehr heizen. Und Feuerholz war teuer. Ich beschaffte, was ich konnte. Das war nicht einfach. Bevor der liebe Verwandte den letzten Atemzug getan hatte, verschwand das Holz meist schon.

Was mir jedoch mehr Sorgen bereitete: In Matthes wuchs die alles verzehrende Kraft schneller als je zuvor. Klar, er war ein alter Mann. Die hartnäckige Kälte machte ihm zu schaffen. Die Reisen. Ständig wechselnde Umgebungen. Das mühselige Organisieren von Kleinigkeiten, die zu Hause zur Hand gewesen wären. Matthes ließ sich auch nicht alles abnehmen. Er war noch immer das Familienoberhaupt.

Dieser verdammte Krieg.

Matthes ging kaum noch allein aus dem Haus. Selbst auf Spaziergängen begleitete ihn meist Tochter Rebekka. Und so früh wie sonst kam er nicht mehr aus dem Bett. Als es endlich wieder gute Nachrichten gab, hatte ich keine Möglichkeit ihn allein zu sprechen. So musste ich einige Zeit warten, bis es plausibel schien, dass die Nachricht mich auf natürlichem Wege erreicht hatte.

Ein kleiner Fang Kaffee und Holzscheite nahm ich zum Anlass, in Lübeck vorbeizuschauen. Meine Beute und ich wurden herzlich willkommen geheißen. Während Matthes und Rebekka mich mit den Familienneuigkeiten versorgten, bereitete Tochter Rebekka den Kaffee zu. Schließlich konnte ich nicht länger stillhalten.

„Auch in der Welt der hohen Politik gibt es etwas Neues“, verkündete ich großspurig und legte eine Kunstpause ein. Matthes und Rebekka beugten sich gleichzeitig leicht vor.

„Paris ist gefallen.“

„Was?“, rief Matthes.

„Wirklich?“, fragte Rebekka.

„Ja, gibt’s denn das“, schickte Matthes hinterher.

Angelockt von den Stimmen kam Tochter Rebekka herüber.

„Was ist passiert?“

„Paris soll gefallen sein, sagt Herr Schneider.“

„Soll?“

Die Tochter kam eindeutig nach ihrer Mutter.

„Ich habe es aus einer zuverlässigen Quelle, für die ich mich jederzeit verbürgen kann.“

„Daran zweifele ich nicht, mein Freund“, sagte Matthes mit einem leichten Zwinkern. Rebekka sah es nicht, war mit den praktischen Konsequenzen beschäftigt:

„Ist die Nachricht schon in Hamburg eingetroffen?“

„Ja, aber die Franzosen halten sie für eine Kriegslist.“

„Wie geht es nun weiter? Sie können doch nicht ewig in Hamburg aushalten.“

„Man hört so einiges. Krankheiten sollen ausgebrochen sein, Hunger macht sich breit. Doch die Belagerer glauben sich nicht stark genug, die Stadt zu erobern. Ein klassisches Patt. Wobei die Zeit eindeutig gegen die Franzosen spielt. Es kann nun nicht mehr lange ...“

Irritiert brach ich ab. Matthes gab ein leises Schnarchen von sich. Tochter Rebekka kam mit dem Kaffeetablett. Ihre Mutter legte den Zeigefinger an die Lippen. Die Tochter stellte leise das Tablett ab und deutete mit Handbewegungen an, dass sie in der Küche nähen wolle. Rebekka nickte ihr zu.

„Was ist?“, flüsterte ich.

„Das kommt jetzt häufiger vor. Gerade noch hellwach, schläft Matz ganz plötzlich ein. Ich mache mir Sorgen um ihn, Herr Schneider. Was meinen Sie?“, fragte sie leise.

„Nun ja, er ist ein alter Herr. Hatte viel Aufregung in letzter Zeit.“

„Meinen Sie … es geht zu Ende?“

Ich sah sie an. Ihre klaren, blauen Augen erinnerten an das Mädchen von vor langer Zeit. Was sollte ich ihr sagen? Sollte ich ihr alles sagen? Ich war in Versuchung, doch …

„So schnell geht das nicht. Sicher haben ihm die letzten Monate nicht gut getan, aber wenn er erst mal wieder zu Hause ist, wird er sich bestimmt berappeln.“

Nachdenklich sah Rebekka mich an. Dann lächelte sie.

„Ich bin froh, dass Sie das so sehen. Ich habe dieselbe Hoffnung, nur müssen wir langsam wieder heimkommen.“

„Es kann nicht mehr lange dauern. Die Belagerer werden den Ring enger ziehen. Bis keine Maus mehr heraus- oder hineinkommt. Und wenn die Franzosen klug sind, ziehen sie bald ab.“

„Ich hoffe, Sie behalten recht, Herr Schneider. Es fällt schwer, in diesen Zeiten an die Klugheit der Franzosen oder der Menschen im Allgemeinen zu glauben.“

„Ja, das ist wahr. Die Welt scheint immer verrückter zu werden.“

Kurz danach verabschiedete ich mich, versprach weiter die Ohren offen zu halten. Etwa einen Monat später kehrten die Flüchtlinge heim. Matthes ging es bald tatsächlich besser, doch die Kraft ließ sich nicht beirren. Sie wuchs.

Wie lange noch? Ein halbes Jahr oder mehr? Ich machte mir nicht nur ernsthaft Sorgen, ich fürchtete den Tag, an dem es so weit sein würde. Das war eine überaus seltsame Erfahrung: Ich hatte Angst vor dem Schnitt. Nicht nur die Welt wurde verrückt.


Kommentar des Autors:

Dieses Kapitel hält sich wieder an die historischen Fakten. Auch die Vertreibung der Hamburger Bürger aus der Stadt hat mit ihren tödlichen Folgen so stattgefunden. Kurz vor Schluss noch ein Hinweis auf eine selbst auferlegte „Spielregel“: Es heißt immer „der Schnitt“ oder „ich schnitt“ bzw. „geschnitten“, aber nie wird eine Form von „schneiden“ benutzt. Freund Hain muss also sagen: „Ich hatte Angst vor dem Schnitt.“ und nicht „Ich hatte Angst davor, jemanden zu schneiden.“ Die gewählte Form soll an den „Schnitter“ erinnern, wie der Tod auch früher genannt wurde.