Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

47 - 1813

 

1813. Eins acht eins drei. Diese Zahlenkombination habe ich mir gemerkt. Immer wenn auf Erden etwas Unglaubliches passiert, wenn ich wie ein Wahnsinniger Schnitte setzen muss, denke ich „eins acht eins drei“. Wegen Leipzig. Ich schnitt bei jener Schlacht so viele Menschen in so kurzer Zeit wie nie zuvor. Es waren sicher mehr als 50.000. Nach dieser Raserei dachte ich: Nun müssen sie doch gescheit werden. Aber: die Menschheit und gescheit? Eins acht eins drei.

Doch das war erst im Herbst. Im Frühling wurden die russischen Truppen in Hamburg begeistert empfangen – eine Spätfolge von Napoleons Leichenzug aus Russland. Die französischen Besatzer hatten sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht. Kamen im Mai aber schon zurück. Diesmal zogen die Russen ab.

Die Lage blieb unübersichtlich. Und woran Matthes wirklich knabbern musste: Dänemark hatte sich mit Napoleon verbündet. Das war für ihn ungefähr so als ob Herr Gott sich mit dem Teufel verbündete. Obwohl es auch das schon gegeben haben soll, siehe Hiob. Ganz praktisch hieß das jedoch: Wenn russische und preußische Truppen Hamburg von den Franzosen befreien wollten, war das dänische Wandsbeck für sie Feindesland.

Mehrfach hielten wir Kriegsrat. Viel helfen konnte ich Matthes nicht. Die Manöver der verschiedenen Armeen vermochte ich nicht zu durchschauen. Es war bereits Hochsommer, als eine Entscheidung fiel.

„Die Gräfin von Reventlow hat uns mehrfach eingeladen, nach Emkendorf zu kommen. Wir werden nächste Woche fahren“, verkündete mir Matthes.

„Und das Haus?“

„Wir können nur auf Gott vertrauen, mein Freund. Ich bin ein alter Mann, wie soll ich das Haus gegen ganze Armeen verteidigen? Vielleicht kannst du ab und an nach dem Rechten sehen. Möglicherweise schafft es Fritz, sich freizumachen und kommt aus Lübeck herunter, um das Haus zu hüten. Wir ziehen besser jetzt nach Norden, bevor Russen und Preußen ernstlich Richtung Hamburg marschieren.“

„Ich werde sehen, was ich tun kann, um das Haus vor Schaden zu bewahren.“

„Und auch die Bäume, mein Freund. Pass mir auf die Linden auf. Soldaten sind wie Heuschrecken, sie hinterlassen kahle Landschaften. Was im Haus kaputt geht, ist zu ersetzen, aber diese Bäume sind zu meinen Lebzeiten unersetzlich.“

„Denkst du wieder ans Sterben?“

„Nein, Freund Hain, ich denke ans Leben und ich kann rechnen. In den paar Jahren, die mir noch bleiben, ziehen wir keine Linden mehr hoch. Das musst du mir wohl zugeben.“

„Nun gut, Männer mit Äxten sind unerwünscht. Das werde ich zu verbreiten suchen.“

Matthes zog mit Frau Rebekka und Tochter Rebekka nach Emkendorf. Die Abreise erfolgte zum richtigen Zeitpunkt. Kurz danach wurde das Haus von Franzosen besetzt. Die blieben allerdings nicht lange. Angeblich sollte es dort spuken. Auf den Bäumen würden Geister hocken.

Die erste Etappe der Flucht war eine glückliche. Matthes und Rebekka wurden fast wie ein Königspaar behandelt, von Haus zu Haus weitergereicht, um festlich zu speisen. Der Wandsbecker Bote galt hier etwas.

Nach einigen Wochen mochte Matthes die Gastfreundschaft der Emkendorfer nicht überstrapazieren. An Kiel vorbei ging es nach Lütjenburg zu seinem jüngeren Bruder Christian. Auch hier wurden die Claudiusse wie Ehrengäste behandelt. Zu Rebekkas Geburtstag gab es gar einen Empfang beim Bürgermeister. Ein paar Tage zuvor überbrachte ich Matthes die Nachrichten aus Leipzig.

Seine frühmorgendlichen Spaziergänge hatte er auch in der Fremde nicht aufgegeben. Wald gab es in Lütjenburg kaum. Nur viel flaches Land in Felder aufgeteilt. Matthes’ Spazierrevier war ein Weg entlang der Kossau; ein kleiner, verschnörkelter Fluss auf dem Weg zur Ostsee.

Ich platzierte mich sichtgeschützt durch Bäume in einer Biegung des Flusses. Matthes sah mich erst, als er mir fast schon auf die Füße trat.

„Hui, der Herr Schneider, fast hätte ich ihn nicht bemerkt.“

„Das habe ich bemerkt, dass du mich nicht bemerkt hast. Nicht ungefährlich, am Fluss zu gehen, ohne zu sehen.“

„Danke, Herr Schneider, für diese Worte der Aufklärung. Ich werde sie in meinem Herzen tragen. Doch nun sag, was führt dich her? Gibt’s Neues aus der Heimat? Schlechte Nachrichten?“

„Nein, Matthes, in Wandsbeck ist alles ruhig. Aber andernorts hat es gewaltig geknallt.“

„Ja, vielleicht hätten wir daheim ausharren sollen. Obwohl es uns hier nicht schlecht geht, im Gegenteil: Ich bin selten … es hat gewaltig geknallt?“

„Bei Leipzig.“

„Rede, mein Freund, rede. Was ist passiert?“

„Es hat eine große Schlacht gegeben in der Nähe von Leipzig. Drei Tage lang. Eigentlich zwei, am Sonntag gab es nur kleine Gefechte. Es waren Soldaten einiger Länder beteiligt: Russen, Deutsche, Österreicher, Franzosen, Schweden, Italiener. Wer gegen wen kämpfte, kann ich nicht sagen. Am Schluss haben sich die Franzosen zurückgezogen. Napoleon hat die Schlacht wohl verloren.“

„Das ist großartig, Freund Hain. Endlich ist die Wende da und Napoleon muss seine Raubzüge aufgeben.“

„Matthes, sprich nicht so. Ich habe viele Schlachten mitgemacht, grausige Gemetzel darunter, aber noch nie sind so viele Menschen in so kurzer Zeit getötet worden. Es müssen 50.000 gewesen sein.“

„50.000 Tote? Mein Gott, Hain! 50.000 Leben in zwei Tagen von Menschenhand vernichtet.“

Matthes schaute wild umher, als ob er ein Insekt suchte, das er im Flug fangen wollte.

„Das ist … unvorstellbar“, flüsterte er. „Was ist nur aus dieser Welt geworden!“

Wir schwiegen.

Schließlich fasste er sich wieder: „Wie geht es nun weiter mit uns?“

„Schwer zu sagen. Erst mal muss die Nachricht von der verlorenen Schlacht Hamburg erreichen. Aber selbst dann … Wer weiß, ob Napoleon sich nicht noch mal stellt und doch wieder der Sieger bleibt.“

„Ja, entschieden ist wahrscheinlich noch nichts. Wir bleiben besser, wo wir sind, doch es besteht die Möglichkeit, dass wir nach Kiel gehen. Perthes hat Caroline dort untergebracht. Sie erwartet wieder ein Kind und hätte liebend gern ihre Mutter dabei – und vielleicht auch mich.“

„Gut, ich werde euch im Auge behalten. Und Matthes: Kein Wort über Leipzig zu irgendjemandem.“

„Ja, ich weiß, Freund Hain. Das wird nicht leicht, Rebekka durchschaut mich wie klar Glas, aber ich will auch nicht als Hellseher in die Geschichte von Lütjenburg eingehen, weil ich Dinge weiß, die ich nicht wissen kann. Am besten gehe ich gleich in die Kirche, um für die Toten zu beten, die Franzosen, die Preußen und all die anderen und um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.“

„Tu das. Sobald ich Neues weiß, vor allem um Wandsbeck, werde ich dich wieder aufsuchen.“

Wir gaben uns zum Abschied die Hand. Ich wollte loslassen, doch Matthes hielt fest.

„Danke, Freund Hain. Ich habe mich schon lange nicht mehr richtig bei dir bedankt für all die kleinen und großen Gefälligkeiten, die du uns erweist. Ich bin wirklich froh, dich zu haben und zu wissen, dass du es bist, der mir die letzte aller Gefälligkeiten tun wird.“

Ich sah ihn an. Wusste nichts zu erwidern. Matthes ließ meine Hand los und kehrte um. Ich blieb am Fluss stehen, schaute ins Wasser. Blätter trieben vorbei.

Ja, ich würde es tun müssen. Aber ich wollte nicht daran denken.

 

Ein Seliger an die Seinen in der Welt

Hier ist alles heilig, alles hehr!
Und die kleinen Erdenfreuden,
Und die kleinen Erdenleiden
Kümmern uns nicht mehr.
Doch wir denken hier an die da drüben,
Denken hier an sie, und lieben.


Kommentar des Autors:

Ob Leipzig 1813 wirklich die größte Schlachterei der Geschichte bis dahin war, kann ich nicht hundertprozentig sagen. Ich habe zumindest nichts Gegenteiliges gefunden. Kurze Erwähnung findet Emkendorf und die Gräfin von Reventlow. Es gab einen sogenannten Emkendorfer Kreis, wo Schriftsteller bei der Gräfin zusammentrafen, genannt werden Jacobi, Klopstock, Voß und andere. Aber das ist eins der Themen, wie auch die Freimaurerei, die ich zugunsten des Erzählflusses ausgelassen habe.