Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

46 - Manchmal bin ich dieser Welt wahrlich überdrüssig

 

„Manchmal bin ich dieser Welt wahrlich überdrüssig“, sagte Matthes.

„Schnell, Rebekka, einen Coffee, extrastark, für den alten Mann. Seine Lebensgeister müssen geweckt werden.“

„Noch einen Coffee, Matz?“

„Nein, lass man, Liebes. Ich habe noch.“

Wir saßen zusammen in der Wohnstube. Die Kinder, flügge geworden, waren außer Haus. Manche weit weg. Anna war mit ihrem Mann inzwischen nach München gezogen. Die Jungs studierten. Manche nur eben unterwegs, wie Tochter Rebekka auf Besorgungen. Guste und Trinette besuchten Verwandte.

Für Matthes’ Trübsal gab es einen Grund: Caroline hatte in einem kurzen Brief von Otto Runges Tod berichtet. Der junge Maler war in Hamburg verstorben. Er gehörte zum großen Freundeskreis der Familie Claudius. Da ich mich dort heraushielt, war nicht ich es, der die Nachricht überbracht hatte.

Rebekka suchte ihn zu trösten:

„Aber er ist vorbildlich wie ein wahrer Christ aus dieser Welt gegangen, nicht wahr, Matz? Das ist es doch, was am Ende zählt.“

„Ja, natürlich. So möchte man gehen. Bis kurz vor Schluss ganz klar und um einen herum Menschen, die man liebt. Doch darum geht es nicht. Was ist das für eine Welt geworden, die er verlassen hat? Nimm Hamburg, wo die Franzosen auf Befehl ihres ‚Kaisers’ seit vier Jahren hausen. Da haben sie revolutioniert, ihren rechtmäßig Herrscher und seine Frau ermordet, und jetzt führt sie ihr Kaiser von eigenen Gnaden überall hin, und zweifelsfrei wird er sie auch ins Verderben führen. Die Hamburger verrohen unter diesem Volk.“

„Na, Matthes, du übertreibst. Nur weil ein Strauchdieb bei euch in Wandsbeck am helllichten Tage Wäsche klaut. Das heißt doch nicht, dass alle Hamburger verrohen.“

„Erinnere mich nicht daran. Obwohl es ein harmloser Vorfall war, saß uns der Schreck noch lange in den Gliedern. Doch was kommt als nächstes? Wir können nicht mehr schlafen, ohne dass wirklich alle Türen und Fenster verschlossen sind. Früher sind wir aus dem Haus gegangen, haben nicht abgeschlossen und die Fenster waren auf.“

„Weißt du noch, Matz, das Eichhörnchen? Als wir zurückkamen. Es stand mitten auf dem Tisch, knabberte an einer Haselnuss und ließ sich gar nicht stören.“

„Hatte es eine Trikolore am Schwanz?“, warf ich vorwitzig ein.

„Nein, Freund Schneider, das war lange vor den Franzosen. Ich glaube, wir hatten das neue Haus ein … zwei Jahre, Betty?“

„War das nicht in dem Jahr, in dem der Kronprinz bei uns war, Matz?“

„Ich weiß nicht mehr, die Jahre verschwimmen mir. Aber das ist auch nicht der Gegenstand meiner Klage. Warum muss ein so junger, begabter Mann wie Runge sterben; kennst du sein Bild ‚Der Morgen’, mein Freund?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Es ist ein Wunderwerk aus Licht und Farbe. Und doch: Kurz bevor der Sohn geboren wird, den er so gerne noch in den Armen gehalten hätte, stirbt sein Schöpfer. Aber Mörder und Kriminelle erhalten Aufschub, ehe sie in die Hölle einfahren.“

Matthes spielte auf einen Fall in Hamburg an. Ein Tischler war ermordet, ausgezogen und nackt in die Alster geworfen worden. Der Mörder versuchte die noch blutigen Kleidungsstücke zu verkaufen. Was sehr schlau war. Wegen irgendwelchen formalen Streitigkeiten zwischen Besatzern und Hamburger Behörden verzögert sich jedoch die Ausführung des Todesurteils immer wieder.

„Nun lass es uns doch so sehen, Matthes. Der eine hat die ihm zugemessene Lebensspanne voll und ganz genutzt. Die Trauer um ihn zeigt das deutlich. Der andere hat sein Leben weggeworfen. Die paar Tage Unterschied werden ihm nicht mehr helfen. Der einzige, der wirklich zu bedauern ist, das ist der Tischler. Aber so ist nun mal die Welt. Zur falschen Zeit am falschen Ort, zur rechten Zeit am rechten Ort – niemand kann das voraussehen. Man muss es nehmen, wie es kommt.“

„Oho, Betty, erinnere mich daran, dass ich Herrn Hein Schneider fürs Philosophenlexikon vorschlage. Sein Name fehlt dort ganz entschieden. Und nun könnte ich doch einen Coffee gebrauchen.“

Für diesmal war der Bann gebrochen. Doch die Tage häuften sich, an denen Matthes Trübsal blies, sich in eine andere Welt wünschte. Beim Herrn. Es war halt die Zeit, in der immer mehr Freunde und Bekannte fortgingen und nicht wiederkamen. Herder, Klopstock und viele andere, deren Namen heute nicht mehr bekannt sind.

Auch vermisste er die Söhne und Töchter, die das Elternhaus verlassen hatten. Briefe waren kein Ersatz. Ob es geschrieben steht oder man mittendrin ist, das macht einen großen Unterschied. Und überhaupt: Mehr als dreißig Jahre lang hatte Matthes Kinder um sich herum gehabt: von Caroline bis Franz. Jeden Tag hatten sie ihn herausgefordert. Mit ihren Fragen, ihrer Phantasie, mit Hochstimmungen und kleinen Unfällen. Das war nicht nur Freude, aber es hielt den Geist auf Trab. Diese Stimulans fehlte nun. Matthes verkroch sich immer weiter in sein Glaubensgebilde.

Trotzdem: Als es drauf ankam, handelte er entschlossen. Dem Emporkömmling Napoleon wollte er nicht zum Opfer fallen.

 

Auf O – – o R – – s Grab

Aus einer Welt voll Angst und Not,
Voll Ungerechtigkeit, und Blut und Tod
Flüchtete die fromme reine Seele
Sich ins bessre Land zu Gott;
Und der Leib in diese dunkle Höhle,
Auszuruhen bis zum Wiedersehn.
O der Christ ist immer groß und schön,
Doch im Tod in seiner größten Schöne.
Wandrer, bleib am Grabe stehn,
Lerne hier, was eitel ist, verschmähn;
Weine eine stille Träne!
Und denn kannst du weitergehn.


Kommentar des Autors:

Bis auf die Sache mit dem Eichhörnchen beruhen alle Geschichten dieses Kapitels auf wahren Begebenheiten, die ich aus Matthias Claudius’ Briefen entnommen habe. „Ob es geschrieben steht oder man mittendrin ist, das macht einen großen Unterschied“, ist das Leser-Pendant zu Freund Hain, der feststellen musste, dass aus der Ferne beobachten und mittendrin sein sich gewaltig unterscheiden.