Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

44 - Ich habe nachgerechnet

 

Ich habe nachgerechnet: Achtzehn Jahre blieben mir noch mit Matthes. Sie hatten ihre Höhen und Tiefen, ihr Hoffen und Bangen. Doch hätte es Napoleon nicht gegeben, Matthes wäre nicht mehr aus Wandsbeck weggegangen.

In den ersten Jahren gab es vor allem Hochzeiten zu feiern. Dabei trafen Matthes zwei Schicksalsschläge: Er verlor seine beiden ältesten Töchter. Nicht an mich – junge Männer entführten sie zum Zwecke der Familiengründung. Matthes brauchte seine Zeit, um die Anträge zu verarbeiten.

„Sie sind noch so jung“, klagte er.

Caroline und Anna waren schon ein paar Jahre älter als Rebekka bei ihrer Heirat.

„Ihre Mutter braucht Hilfe“, mahnte er.

Guste und Trinette rückten bereits nach, näherten sich selbst dem heiratsfähigen Alter.

„Gebären ist gefährlich“, warnte er.

Hatte er nicht Rebekka ein Dutzend Mal dieser Gefahr ausgesetzt? Warum eigentlich?

„Gottvertrauen, Freund Hain. Wir hatten und haben immer noch Gottvertrauen. Seid fruchtbar und mehret euch, heißt Gottes Gebot, wie du inzwischen weißt. Und der Apostel Paulus schreibt, dass das Weib selig wird durch ihre Kinder.“

„Und du möchtest nicht, dass deine Töchter selig werden?“

„Hain! Du redest wie ein Pharisäer. Lass doch bitteschön einen Vater mit seinen Bedenken ringen.“

Er rang und die Töchter blieben Sieger. Caroline heiratete den Hamburger Buchhändler und Verleger Friedrich Perthes. Im Jahr darauf begrüßte Matthes als strahlender Großvater seine erste Enkelin Agnes. Anna heiratete den Jacobi-Sohn Max. Einst waren seine beiden älteren Brüder zwei Jahre bei Matthes zur Schule gegangen. Max ließ sich als Arzt in Eutin nieder. Auch hier dauerte es nicht mal ein Jahr, bis Enkel Leo zur Welt kam.

Bei allem Gottvertrauen fiel mir die Aufgabe zu, Matthes erste Nachricht von den Geburten zu bringen. Es sollten noch einige folgen. Mal schwerer, mal leichter, aber immer mit glücklichem Ende. Wenn auch nicht jeder Enkel die Kindheit überlebte.

Bei den Hochzeiten war ich nicht dabei. Ich besorgte fürs Festmahl, was immer ich auftreiben konnte. Doch so sehr Matthes und Rebekka auch baten und winkten, ich wollte mich nicht auf noch mehr Menschen einlassen.

Am schwersten fiel mir das bei der größten aller Hochzeitsfeierlichkeiten: Matthes’ und Rebekkas Silberhochzeit. Ich kann schlecht sagen, wie ein Mensch die Zeit fühlt. Mir kamen die 25 Jahre vor wie eine Ewigkeit. Unendlich entfernt schien mir der Tag, an dem ich Rebekka unter einem Vorwand zu Matthes geschickt hatte. Zum liebeskranken Wandsbecker Boten.

Ich brauchte einige Anläufe, um Matthes zu erklären, warum ich bei dem großen Tag nicht dabei sein würde. Er konnte es nicht recht einsehen, dass bei einer solchen Feier Bindungen entstehen könnten. Bindungen, die es mir schwer machen würden, meine Aufgabe zu erfüllen. So ganz war ich selbst nicht überzeugt. Es war – ein Gefühl, dass es besser so wäre. Dass es so sein müsste.

Bei Rebekka blieb mir nur, den Transportunternehmer hervorzuholen. Ein großer Auftrag in Süddeutschland. Umzug eines bayerischen Grafen in sein neues Schloss. Lang geplant. Es tat mir sehr leid, sie anlügen zu müssen. Sie hatte das nicht verdient. Für die Wahrheit aber, so glaubte ich, war es zu spät.

Blieb noch die Frage des Geschenks. Es sollte etwas Wertvolles sein. Es durfte aber zu nicht wertvoll sein. Matthes wusste, wo meine Mitbringsel herkamen. Vielleicht war Gewohnheit eingetreten, wenn ich was für die Küche organisierte oder den Kindern eine Kleinigkeit mitbrachte. Aber ein wertvolles Geschenk? Würde sich nicht sein Gewissen melden? Nein, solcher Art Komplikationen wollte ich nicht heraufbeschwören. Doch was dann?

Die rettende Idee kam mir am Schöneberger Strand. Bauer Schulz sammelte mit seinen Enkeln Detlef und Dietrich Muscheln, als das Herz nicht mehr mitmachte. Die Kinder waren voraus gelaufen, hatten noch nichts bemerkt. Ich betrachtete die Miniatur-Schatztruhe, die dem Bauern aus der Hand gefallen war. Gefüllt mit Sand und Muscheln. Das war’s!

Die Zutaten: eine alte, mittelgroße Reisetruhe; zwei Flaschen Rheinwein (Matthes hatte ein Gedicht über ihn geschrieben, musste also passen); Münzen, so viel ich auftreiben konnte; vom Meeresstrand Muscheln, Seesterne und Sand.

Die Idee: Ich füllte die Truhe mit dem Sand, versteckte Flaschen und Münzen darin, Muscheln und Seesterne dienten der Dekoration. Das Geschenk sollte angeblich ein Stück Strand für den Garten sein, weil die Familie nie ans Meer kam. War es als Kuriosität akzeptiert, würde Matthes es kaum zurückgeben, falls er irgendwann den kostbaren Inhalt entdeckte. Und wenn er ihn nicht bemerkte, war es immer noch ein eigentümliches Geschenk.

Es dauerte einige Monate, bis Matthes mich bei einem morgendlichen Rundgang als Griechen begrüßte.

„Wieso Grieche?“

„Nun, mein Freund, Griechen sind dafür bekannt, Geschenke zu geben, die nicht das sind, für das sie gehalten werden. Die Trojaner bekamen von den Griechen einst ein Pferd aus Holz. Doch war dies keine Abschiedsgabe für die Götter, sondern ein Schachzug, der Troja Matt setzte, denn im Innern waren griechische Kämpfer verborgen. Wenn also jemand – hypothetisch gesprochen – einem alten Freund ein Stück Strand schenkt und – wiederum hypothetisch gesprochen – in diesem Strand Dinge verborgen sind, von denen nie die Rede war, so ist meine Conclusio, dass der Schenkende, dessen Herkunft nie eindeutig geklärt wurde, ebenfalls ein Grieche sein muss.“

„Aha, daher weht der Wind. Wer war der stolze Finder?“

„Unser Jüngster, Franz, hatte das Bedürfnis am Strand zu spielen. Er buddelte nach Kinderart im Sand, fand eine Münze, fand noch eine, rief den Papa und wir gruben das ganze Diebesgut aus.“

„Ach komm, Matthes, niemand vermisst irgendwas. Ich bin sehr umsichtig verfahren.“

„Diebesgut ist Diebesgut. Du weißt, dass ich dies weder nach den weltlichen noch nach den göttlichen Gesetzen tolerieren kann.“

Ich seufzte.

„Matthes! Was sollte ich denn machen? Außerdem kann ich nichts mehr zurückgeben. Ich weiß doch nicht mehr, wo ich jede einzelne Münze her habe.“

Matthes grinste mich an, schlug mir auf die Schulter.

„Ist schon recht. Das Geld werden wir an Bedürftige geben und der Wein, ach, der war gut. Ich schätze, du hast die Etiketten ausgetauscht. Es war ganz bestimmt griechischer Wein!“

Und er brach in schallendes Gelächter aus.

An Frau Rebekka;

bei der silbernen Hochzeit, den 15. März 1797

Ich habe Dich geliebet und ich will Dich lieben,
Solang Du goldner Engel bist;
In diesem wüsten Lande hier, und drüben
Im Lande wo es besser ist.

Ich will nicht von Dir sagen, will nicht von Dir singen;
Was soll uns Loblied und Gedicht?
Doch muss ich heut der Wahrheit Zeugnis bringen,
Denn unerkenntlich bin ich nicht.

Ich danke Dir mein Wohl, mein Glück in diesem Leben.
Ich war wohl klug, dass ich Dich fand;
Doch ich fand nicht. GOTT hat Dich mir gegeben;
So segnet keine andre Hand.

Sein Tun ist je und je großmütig und verborgen;
Und darum hoff ich, fromm und blind,
Er werde auch für unsre Kinder sorgen,
Die unser Schatz und Reichtum sind.

Und werde sie regieren, werde für sie wachen,
Sie an sich halten Tag und Nacht,
Dass sie wert werden, und auch glücklich machen,
Wie ihre Mutter glücklich macht.

Uns hat gewogt die Freude, wie es wogt und flutet
Im Meer, so weit und breit und hoch! –
Doch, manchmal auch hat uns das Herz geblutet,
Geblutet ... Ach, und blutet noch.

Es gibt in dieser Welt nicht lauter gute Tage,
Wir kommen hier zu leiden her;
Und jeder Mensch hat seine eigne Plage,
Und noch sein heimlich Crève-coeur.

Heut aber schlag ich aus dem Sinn mir alles Trübe,
Vergesse allen meinen Schmerz;
Und drücke fröhlich Dich, mit voller Liebe,
Vor Gottes Antlitz an mein Herz.


Kommentar des Autors:

Dass Freund Hain wieder glücklich ist, erkennt man möglicherweise auch daran, dass er zu Anfang einen Reim einbaut. Über das Geschenk habe ich lange gegrübelt, bis es endlich gefunkt hat. Das war so ähnlich wie ein Geburtstagsgedicht schreiben, obwohl ich nichts von Geburtstagen halte. Bei der Namensfindung für den Bauern und seine Enkel musste diesmal mein Zahnarzt ins Gras beißen.