Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

43 - Die folgenden Wochen ...

 

Die folgenden Wochen schienen mir länger als die Jahre davor. Ich saß im Schloss. Betrachtete Sonnenuntergänge. Die Blätter verfärbten sich. Und endlich im Fenster: weiße Blumen mit weißem Band.

So lange hatte ich gewartet auf diesen Moment. Aber: Nun wusste ich nicht, wie ich es angehen sollte. Christiane erwähnen oder nicht? Mit Geschenken kommen oder ohne? Was sagte ich den Kindern, die inzwischen groß waren? Wie erklärte ich meine lange Abwesenheit?

Ich grübelte. In unzähligen Variationen malte ich mir diese erste Begegnung mit der ganzen Familie Claudius aus. Doch in einem wahrlich lichten Moment stellte ich fest: Idiot! Und Opa Nikolaus marschierte schnurstracks die Lübsche Landstraße hinauf und klopfte an.

„Hänschen, öffne die Türe. Ich kann hier nicht fort“, hörte ich von innen eine weibliche Stimme. Rebekkas war es nicht.

„Ruf mich nicht Hänschen. Wie oft soll ich das noch sagen?“

„Bitte, Hänschen.“

Die Tür ging auf. Der älteste Sohn, „Hänschen“ Johannes, musterte mich neugierig. Anscheinend war ich ihm nicht mehr bekannt.

„Einen wunderschönen guten Tag, Herr Johannes Claudius. Wir haben uns lang nicht gesehen. Schneider ist mein Name. Hein Schneider. Sind die Eltern zu sprechen?“

„Onkel Schneider?“

Sein Gesicht hellte sich auf.

„Ja, mein Junge, der alte Onkel Schneider.“

„Anna“, schrie er nach hinten, „komm schnell, Onkel Schneider ist hier.“

„Wer? Ach du meine Güte. Ich komme!“

Schwere Schritte in Holzpantinen näherten sich. Aus Pummelchen Anna war eine wohlgerundete junge Frau geworden. Johannes öffnete die Tür etwas weiter, machte Platz für seine große Schwester.

„Mein Gott, Herr Schneider! Dass Johannes Sie überhaupt erkannt hat. Wie lange waren Sie nicht mehr hier?“

„Hm, Jahre! Wie alt ist Fritzchen inzwischen?“

„Sieben.“

„Dann müssen es acht Jahre sein, Anna. Die Eltern sind nicht da?“

„Nein, tut mir leid, das ist wirklich Pech. Gerade heute Morgen sind sie mit Line zu den Perthes nach Hamburg gefahren.“

Sie beugte sich etwas vor und flüsterte:

„Line hat dort einen Schatz gefunden.“

„Das hab ich gehört“, mischte sich Johannes ein.

Unbeirrt sprach Anna wieder lauter:

„Wollen Sie nicht trotzdem hereinkommen? Die Eltern müssten bald zurück sein. Es wäre doch schade, Sie haben sicher einen weiten Weg gemacht, um hierher zu kommen.“

Ich war wirklich ein Idiot. Erst hatte ich mir wer weiß was für Gedanken gemacht und dann? Guckte ich nicht mal, ob sie zu Hause waren. Fast wollte ich den Rückzug antreten, als Johannes schrie:

„Sie kommen!“

Ich drehte mich um. Eine Kutsche näherte sich. Auf dem Kutschbock saß ein mir unbekannter Mann. Doch aus dem Kutschenfenster schaute ein wohlbekanntes Gesicht: Matthes.

Er nickte mir lächelnd zu. Dann wandte er sich ins Innere der Kutsche. Kurz darauf spähten zwei weitere Köpfe heraus: Caroline und Rebekka. Line schaute etwas verwirrt. Doch Rebekka strahlte. Wie schon bei der Begegnung mit Matthes lief ein Rieseln durch meinen Körper. Nun wusste ich, wie sich Glück anfühlt.

Die Kutsche hielt. Der Kutscher kletterte vom Bock und öffnete den Fahrgästen die Tür. Matthes stieg etwas steif aus. Seine Zeit, mit den Kindern im Garten herumzutollen, war vorbei. Er bedankte sich beim Kutscher, drückte ihm eine Münze in die Hand. Dann erschien Rebekka. Ganz in Schwarz.

Ernüchtert stellte ich fest, dass ich mir immer noch nichts überlegt hatte. Was sollte ich sagen zu Christiane? Sollte ich überhaupt daran erinnern?

Matthes half Rebekka beim Aussteigen. Sie bewegte sich bedächtig. Damenhaft. Auch an ihr waren die letzten Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Schließlich reichte Matthes Caroline die Hand, die behände aus der Kutsche kletterte.

Der Kutscher verabschiedete sich unter Verbeugungen von den Herrschaften und fuhr ab. Rebekka und Caroline hakten sich bei Matthes ein. Gemächlichen Schrittes kam die kleine Claudius-Gesellschaft aufs Haus zu. Doch bevor ich mir ein paar Worte zurechtlegen konnte, rief Matthes:

„Sieh an, sieh an. Der verlorene Freund ist wieder da.“

Rebekka sah mich freudig an. Sie konnte ja nicht ahnen, dass dieses Wiedersehen dem Tod ihrer Tochter zu verdanken war. Schließlich standen die drei vor mir. Irgendetwas musste ich sagen. Ich flüchtete mich ins Formelle.

„Frau Rebekka, Caroline, Meister Claudius. Ich komme etwas ungelegen …“ Und weiter wusste ich schon nicht mehr. Zum Glück sprang Rebekka ein.

„Nein, nein, Sie sind immer willkommen. Lassen Sie uns erst mal ins Haus gehen. Wir machen uns etwas frisch, Anna setzt einen Coffee auf und dann verplaudern wir den ganzen Tag. Es gibt so viel zu erzählen. Nicht wahr, Matz?“

„Natürlich, Bebelmus. Als Generalissima dieses Hauses hast du die Lage erfasst und die richtigen Maßnahmen ergriffen.“

„Ach, du immer. Kommen Sie, Herr Schneider, hinein in die gute Stube. Wir haben Sie alle vermisst; Anna, wo sind die Kinder?“

Wir gingen ins Haus, während Anna Bericht erstattete.

„Die Jungens wollten auch verreisen. Guste und Rebekka haben sie im Bollerwagen mitgenommen. Trinette ist mit der Einkaufsliste unterwegs.“

„Hörst du, Mutter Generalissima. Alles bestens, kein Küken ist verloren gegangen. Und mein großer Sohn Johannes: Hast du gut aufgepasst, dass Anna die Finger von den Honigtöpfen lässt?“

„Papa!“, rief Anna empört.

„Schon gut, meinen Segen hast du. Hier mein Freund, setz dich auf den Ehrenplatz. Wir sind gleich alle bei dir. Anna, der Coffee.“

Die Familie strömte auseinander. Ich blieb zurück, war überwältigt, wieder mittendrin zu sein. Dieses Gefühl verließ mich beinahe den ganzen Tag nicht mehr. Um mich herum vibrierte das Leben und ich saß wie gefangen. Eigentlich seltsam. Bin ich es doch gewohnt, an 1.000 Orten zugleich zu sein. Ich setze den Schnitt, egal was um mich herum passiert. Doch gelebtes Leben konnte mich noch immer verwirren.

Matthes und Rebekka erzählten, was ihnen aus den letzten Jahren in den Sinn kam. Für mich ungewohnt saßen die Kinder mit am Tisch. Zwischen Caroline und Anna blieb ein Stuhl frei. Und gerade als ich seine Bedeutung verstand, sagte Rebekka:

„Das ist Christianes Stuhl. Wir lassen ihn frei, um uns zu erinnern. Sie soll weiter einen Platz in unserer Mitte haben.“

Ich schaute Rebekka an, Matthes, die Kinder.

„Es tut mir sehr leid, was passiert ist. Ich habe sie sehr gemocht.“

Rebekka versuchte mit zusammengepressten Lippen ein Lächeln. Die Mienen von Caroline und Anna verdüsterten sich. Selbst Johannes bekam einen in sich gekehrten Blick. Bevor die Stimmung ganz und gar umkippte, griff Matthes ein.

„Lasset uns beten.“

Alle falteten die Hände und senkten die Köpfe. Nach kurzem Zögern tat ich es ihnen gleich. Matthes sprach:

„Herr, wir gedenken unserer Tochter und Schwester Christiane. Wir danken dir, dass du sie uns gegeben. Wir danken dir, dass du sie zu dir genommen. Du weißt um unsere schweren Herzen, denn du hast deinem eigenen Sohn Jesus Christus das Leben gegeben und wieder genommen, um uns zu erlösen. Dafür können wir nicht genug danken und hoffen, dass du auch uns in Gnade aufnimmst, wenn unsere Zeit gekommen. Bis dahin bitten wir um dein Wohlwollen für unseren Wandel auf Erden und darum, dass immer genug Hönigtöpfe in der Küche bereit stehen. Amen.“

„Amen“, wiederholten Rebekka und die Kinder, gefolgt von Annas empörten „Papa!“.

„Was, was? Ich bat um Speisen für die Familie, erwähnte unser Honigmäulchen mit keinem Wort. Möchtest du eigens erwähnt werden?“

„Du weißt, was ich meine, Papa.“

„Ach ja?“

Matthes hob weit die Augenbrauen. Rebekka und Johannes lachten. Bald darauf erschienen die Verreisekinder Guste und die kleine Rebekka mit den jüngsten Söhnen. Fritz und Ernst und Franz wurden mir vorgestellt. Großes Interesse hatten sie nicht an mir. Reisen macht hungrig. Sie verschwanden in der Küche.

Als auch Trinette vom Einkaufen zurückkam, war Familie Claudius wieder komplett. Es gab ein ständiges Hin und Her. Die Tischbesetzung wechselt immer wieder, während Matthes und Rebekka mich auf den neuesten Stand brachten. Nicht alles war mir unbekannt. Doch ich lauschte, als ob es das wäre. Wenn sie erzählten, hatten all die kleinen und großen Familienereignisse viel mehr Klang und Farbe. Nichts davon wollte ich verpassen.

Darüber wurde es Abend. Die Kleinen begannen zu quengeln. Auch die Älteren schienen mir unruhig. Ich erwachte aus meiner Benommenheit, es war an der Zeit zu gehen.

Ich machte Anstalten aufzubrechen, doch Rebekka wollte mich noch nicht gehen lassen.

„Bleiben Sie doch zum Abendbrot, Herr Schneider.“

„Vielen Dank, Rebekka, ich habe euch nun fast den ganzen Tag belegt und bin auch noch mit leeren Händen gekommen. Nein, es ist Zeit für mich.“

„Aber ich bitte Sie, Herr Schneider, Sie sind willkommen so, wie Sie sind. Das hängt doch nicht von Mitbringseln ab.“

Matthes bekräftigte ihre Worte:

„Ja, meine Allerliebste hat völlig recht. Du kommst, wie du kommst und bleibst so lange du magst. Die Hauptsache ist, dass du kommst.“

„Danke euch beiden. Ich werde sicher bald wieder vorbeischauen. Aber für heute soll es genug sein. Ich habe in den letzten Stunden mehr erfahren, als in meinen alten Kopf hinein passt. Der braucht etwas Lüftung.“

Die beiden gaben ihren Widerstand auf. Matthes tat jedoch kund, mich ein Stück zu begleiten. Ich verabschiedete mich von Rebekka und den Kindern. Verwechselte Franz und Ernst, nannte Auguste Triguste und Trinette Aunette. Was mir einen Abgang mit Lachern verschaffte. Wir verließen das Haus, ich wandte mich noch mal um, winkte Rebekka zum Abschied. Der Form halber gingen wir Richtung Hamburg.

„Das war wie in den alten Zeiten, nicht Freund Hain?“

„Bis auf die Vervielfachung der Kinderzahl würde ich zustimmen.“

„Ja, der Herr hat es gut mit uns gemeint, aber nun, wenn nicht ein biblisches Wunder passiert, ist Schluss mit dem Nachwuchs.“

Ich sah ihn fragend an.

„Rebekka kann keine Kinder mehr bekommen. Das ist ganz zweifellos auch besser so. Sie ist in den letzten Jahren etwas brüchig geworden. Ich bin froh, dass wir nun schon erwachsene Kinder haben, die ihr vieles abnehmen können.“

„Auf mich machte sie einen rundum guten Eindruck.“

„Sie wollte einen guten Eindruck machen, Freund Hain. Da ist sie immer noch ganz Frau. Es gibt Tage, an denen sie kaum aus dem Bett kommt. Sie braucht solche Ruhetage, um Kraft zu sammeln.“

„Zur Ruhe wird sie noch lange nicht gehen.“

Matthes schaute mich überrascht an.

„Du bist sicher?“

„So weit ich das sagen kann, wird es in absehbarer Zeit keinen Grund zur Trauer bei euch geben. Das kann sich ändern. Seuchen. Unfälle. Andere Schicksalsschläge. Doch allein von der Konstitution gibt es keinen Anlass zur Besorgnis.“

„Das heißt, ich bin der nächste?“

Ich schaute ihn prüfend an.

„Ich denke, es werden alle Kinder aus dem Haus sein, bevor du der nächste bist.“

Matthes lächelte.

„Danach habe ich nicht gefragt, doch ich bin froh, dass du es mir gesagt hast.“

Er griff in seine innere Jackentasche. Zog einen Umschlag heraus.

„Ich habe auch etwas für dich, nach dem du nicht gefragt hast. Es ist ein Gedicht, das ich für dich geschrieben habe. Die Gelehrten, sofern sie sich überhaupt der Mühe unterziehen, es zu lesen, werden sagen, es sind zwei Gedichte, aber, du und ich, wir wissen, dass es nur eines ist. Anna hat es für mich abgeschrieben. Sie hat die schönste Handschrift von uns allen.“

Matthes drückte mir den Umschlag in die Hand. Ich betrachtete ihn, nicht sicher, was ich damit tun sollte. Ich wollte ihn wegstecken.

„Du willst es nicht lesen?“

„Jetzt? Vor deinen Augen?“

„Natürlich. Ich will doch wissen, wie mein Werk wirkt.“

„Aber nicht, dass du enttäuscht bist.“

„Keine Bange, Freund Hain, ich weiß, was ich tue.“

Ich öffnete den Umschlag. Entfaltete das schwere Papier und las. Ich las es noch mal. Tränen schossen mir in die Augen. Matthes hatte recht. Man konnte den Text als zwei Gedichte lesen. Doch der besondere Sinn ergab sich, wenn ich es als eines las.

Eine Träne tropfte aufs Papier. Ich versuchte sie wegzuschütteln. Zu spät. Das Wort Flügel wurde etwas verwischt.

„Ach, jetzt habe ich es ruiniert. Was soll ich sagen? … Niemand hat bisher so etwas Schönes über mich geschrieben. Nichts ist dem vergleichbar. Danke, Matthes, vielen Dank dafür.“

Ich ging auf ihn zu und umarmte ihn. Es war mir jetzt leicht, einen Menschen zu umarmen. Ich wusste nun, wie gut das tat.

„Nichts zu danken, Freund Hain. Es ist eine Kleinigkeit im Vergleich zu allem, was du für uns getan hast.“

Matthes löste sich aus meiner Umarmung.

„Zeig mal. Warum ist es ruiniert?“

Ich reichte ihm das Gedicht.

„Nein, Freund Hain, jetzt ist es vollendet.“

Er gab mir das Papier zurück. Mit einer neuen Gewissheit sahen wir uns lächelnd an: Wir waren Freunde – und würden es bleiben.

 

Der Tod

Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,
         Tönt so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer
         Und die Stunde schlägt.

 

Die Liebe

Die Liebe hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel,
         Und dringt durch alles sich;
Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel,
         Und schlägt sie ewiglich.


Kommentar des Autors:

Das Gebet hat kein konkretes Vorbild im Werk von Matthias Claudius, es sollte aber seinem Denken entsprechen. Auch zeigt es, dass er nicht auf Standardgebete angewiesen ist, sondern entsprechend seinem eigenen Glauben formuliert. Die beiden Schlussgedichte kommen auch in den gesammelten Werken direkt hintereinander. Annelen Kranefuss hat darauf hingewiesen, das die Struktur der einzelnen Bände durchkomponiert ist und nicht nur eine Sammlung von verstreuten Texten darstellt. Wie schon im Kommentar zum 5. Kapitel angedeutet, wurde hier Freund Hains Formulierung „nicht Tür noch Riegel“ übernommen. Auch das ist ein Kreisschluss von der ersten Begegnung zur Versöhnung, die wieder ein Neubeginn ist.