42 - Was war zu tun?
Was war zu tun? Sollte ich mich überhaupt rühren? Ich war Matthes nichts schuldig. Er war es, der mich verstoßen hatte. Warum sollte ich wieder der Überbringer der schlechten Nachricht sein? Das würde meinen Stand bei ihm kaum verbessern. Nein, hier als Zuschauer war ich sicher.
Andrerseits …
Ich konnte mich nicht einfach hineinschleichen, den Schnitt setzen und verschwinden. Ich fühlte mich falsch bei dieser Vorstellung. Ja, Matthes hatte mich verstoßen. Aber: Ich hatte ihn nie ganz aufgegeben. Und nicht Rebekka. Und nicht die Kinder. Und Christiane schon gar nicht.
Die Kraft wuchs weiter.
Dagegen konnte ich nichts tun. Ich musste, musste, musste ihr folgen. Aber ich konnte die Familie darauf vorbereiten. Zu verlieren hatte ich eh nichts mehr. Die Entscheidung war gefallen: Ich nahm den Hut in die Hand.
Matthes ging durch den Garten des Grafen Schimmelmann: vornüber gebeugt, die Hände hinterm Rücken verschränkt. Ich platzierte mich am Ende des Wegs. Zwischen uns 20 Meter freie Sicht. Wenn er nicht mit mir sprechen wollte, konnte er umkehren.
Matthes kam näher, schaute nicht auf. Ich knetete den Hut in meinen Händen. Räusperte mich lautstark. Matthes sah in meine Richtung. Blieb stehen. Wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Er schaute nach links und rechts, schaute hinter sich, und dann – setzte er seinen Gang fort.
Etwas durchrieselte mich. Ein neues Gefühl. Ich beachtete es nicht, blieb nach außen still, sah ihn unverwandt an. Auch Matthes verzog keine Miene. Musterte mich nur mit prüfendem Blick, während er näher kam.
„Freund Hain. Da bist du also wieder. Und in offizieller Mission, wie ich sehe.“
„Ja, Matthes, ich komme nicht mit einer guten Nachricht.“
„Sprich, Freund Hain, sprich. Es nützt ja nichts, diese Sache sonderlich hinauszuzögern.“
„Matthes, es ist unabwendbar: Christiane wird sterben.“
Er schloss die Augen, atmete tief ein und aus. Dann sah er mich wieder an, lächelte verkniffen.
„Nun Freund Hain, das ist wahrlich eine schlimme Nachricht. Die Welt verliert einen guten Menschen.“
Er schluckte, kämpfte mit den Tränen, fasste sich wieder.
„Aber sie geht uns nur voran, Gott wird Gefallen an ihr finden und wir werden uns ganz bestimmt wiedersehen. Das glaube ich mit ganzer Kraft.“
Ich nickte etwas unbestimmt. Wenn ihm dieser Glaube half, dann sollte es halt so sein.
„Ist das alles, Freund Hain? Bist du nur deshalb gekommen?“
„Ja, Matthes. Das ist alles. Ich wollte dich vorbereiten. Mich nicht wie ein Dieb in dein Haus schleichen, um dir deine Tochter zu nehmen.“
„Warum?“
„Warum? Was meinst du?“
„Warum kommst du nach so langer Zeit, um mich ‚vorzubereiten’, obwohl ich dich fortgejagt habe?“
Genau das war die Frage: Warum? Ich setzte den Hut auf. Wie sollte ich das aufrichtig erklären? Aufrichtig zu ihm. Aufrichtig zu mir. Mir fiel eine Stelle aus der Bibel ein. Eine der wenigen, die mir gefallen hatte. Und ich musste vor mir selbst zugeben, dass sie hier zutraf.
„Ja, Matthes, du hast mich verstoßen. Aber ich habe dich nicht verstoßen. Und auch nicht Rebekka. Und nicht die Kinder. Für mich hat sich nichts geändert. Weißt du, ich habe die Bibel gelesen. Vom ersten bis zum letzten Satz. Mach dir keine Hoffnung, ich glaube immer noch nicht an Gott. Darin bin ich unbelehrbar. Aber es gibt eine Stelle, die erklären kann, warum ich hier bin. Paulus schrieb in einem Brief an die Korinther von den drei wichtigsten Dingen. Du weißt, was er schrieb. Er nannte den Glauben: Den habe ich nicht. Er nannte die Hoffnung: Sie schwand und ist bis auf einen vagen Rest verschollen. Doch als Wichtigstes nannte er: die Liebe. Und ich glaube, deshalb bin ich hier und würde immer wieder kommen, egal was du sagst.“
Matthes nickte versonnen.
„Du glaubst also doch an etwas, wenn auch nicht an den Herrn.“
Er schwieg. Warf mir immer wieder einen kurzen Blick zu. Dann atmete er tief durch und sagte:
„Ich habe dich vermisst.“
Er lächelte.
„Es ist … unglaublich. Ausgerechnet du, einer der hartnäckigsten Gottesleugner der Geschichte, ausgerechnet du zeigst mir, was es bedeutet ein Christ zu sein. Die Liebe! Wie schrieb Paulus? Sie verträgt alles, sie duldet alles, sie wird nicht müde. Ich wusste das und habe es doch nicht gewusst. Du magst die meinen nicht retten können, und es war furchtbar dumm von mir, das zu verlangen, aber du kannst anscheinend Blinde sehend machen. Kannst du auch einem alten Sünder verzeihen?“
Ich wusste nicht, was sagen. Stand wie gelähmt. Doch dann kam eine Freude über mich. Ich schritt auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Es war so gut, wieder einen Menschen zu fühlen. Wir schämten uns unserer Tränen nicht, schauten uns glücklich an. Schließlich ließen wir einander wieder los.
„Ach, Hain, ich habe dich wirklich vermisst. Sagte ich schon, dass ich dumm war? Ich war so dumm. Matthias Heinrichs Hinübergehen hat mir das Herz gebrochen, und später wollte ich nicht zugeben, dass ich ungerecht war. Hatte nicht Jesus mit den Zöllnern und den Sündern gespeist? Stell dir vor, Rebekka hat immer wieder nach dir gefragt, bis ich es ihr verboten habe. So unangenehm war mir die Erinnerung an meine Schwäche. Freund Hain, ich bin so schwach. Eigentlich bin ich deiner Freundschaft nicht wert.“
„Sag so etwas nicht, Matthes. Du weißt, ich bin ein Sturkopf. Ich glaube, was ich glaube. Ich liebe, wen ich liebe. Und dass ich überhaupt empfinden kann, das verdanke ich dir.“
Froh sahen wir uns an, doch dann, wirklich gleichzeitig, fiel uns Christiane ein. Matthes fand als erster die Worte wieder:
„Wie lange denkst du hat sie noch?“
„Zwei Tage, drei Tage. Leidet sie?“
„Nein, sie schläft meistenteils, ist ruhig und gefasst. Ich glaube, sie ahnt es, doch sie kommt besser mit ihrem Schicksal zurecht als wir. Sie war schon immer ein vernünftiges, liebes Mädchen. Ach, Hain, warum sie, warum nur?“
Er kämpfte mit den Tränen. Erfolglos. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ja, warum nur? Ob mit oder ohne Gott, es gab keine Erklärung.
„Matthes?“
„Schon gut. Lass mich meine Tränen trocknen. Heute strömen Freudentränen und Leidenstränen so schnell hintereinander, dass ich wohl bald ein zweites Taschentuch brauche.“
Er brachte den Hauch eines Lächelns zustande.
„Sie haben dieselbe Quelle, Matthes. Ob das etwas zu bedeuten hat?“
Matthes stutzte.
„Ein Gedanke, der es wert ist, in einer ruhigen Stunde weiter gedacht zu werden. Ich bin wirklich froh, dich wiederzuhaben, Freund Hain.“
Ich nickte.
„Wie geht es nun weiter?“
Er steckte sein Taschentuch weg.
„Ich denke, obwohl ich dich gerne bald wieder bei uns hätte, es wäre wohl besser, ein wenig zu warten. Trotz deiner Vorwarnung wird der Abschied von Christiane nicht leicht für uns, wer weiß, wie Rebekka es aufnimmt. Die Kinder wird es auch schwer treffen bis auf die jüngsten, die noch nicht verstehen. Gib uns ein wenig Zeit, Freund Hain. Wir waren so lange auseinander, da mag es auf ein paar Wochen nicht ankommen, meinst du nicht auch?“
„Dann soll es so sein, Matthes. Ich habe bis vor einer Stunde nicht im Geringsten erwartet, dass wir wieder zusammenkommen. Sicher werde ich den Tag ungeduldig erwarten, aber du hast recht: Auf ein paar Tage mehr oder weniger wird es nicht ankommen.“
Und dann hatte ich eine Idee.
„Lass uns ein Zeichen vereinbaren, wann ich euch wieder besuchen darf. Sag Rebekka, sie möge weiße Blumen mit einem weißen Band ins Fenster stellen, wenn ihr bereit seid. Einen solchen Schmuck habe ich noch nie am Haus gesehen. Er kann also gut als Zeichen dienen.“
„Hm, Freund Hain, du hast schon seltsame Ideen, aber warum nicht? Machen wir es so. Wenn es so weit ist, sollst du freudig empfangen werden.“
Wir reichten uns die Hände.
„Ich möchte nun schauen, wie es zu Hause bestellt ist, mein Freund. Ich danke für alles und … auf bald.“
„Nichts zu danken. Ich werde warten. Bleib tapfer, Matthes.“
Er tat einen Lachschnaufer, drehte sich um und ging zurück zum Haus. Ich sah ihm so lang wie möglich nach.
Christiane
Es stand ein Sternlein am Himmel,
Ein Sternlein guter Art;
Das tät so lieblich scheinen,
So lieblich und so zart!
Ich wusste seine Stelle
Am Himmel, wo es stand;
Trat abends vor die Schwelle,
Und suchte, bis ich's fand;
Und blieb denn lange stehen,
Hatt große Freud in mir:
Das Sternlein anzusehen;
Und dankte Gott dafür.
Das Sternlein ist verschwunden;
Ich suche hin und her
Wo ich es sonst gefunden,
Und find es nun nicht mehr.