Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

41 - Etwa ein Jahr nach Matthias Heinrichs Tod ...

 

Etwa ein Jahr nach Matthias Heinrichs Tod brachte Rebekka Friedrich Matthias Jacobus zur Welt. Später nur noch Fritz gerufen. Die Befürchtung, keine weiteren Söhne mehr zu bekommen, war damit hinfällig. Falls Matthes das tatsächlich befürchtet hatte. Ich hoffte einige Zeit auf bessere Fensterlektüre. Doch weiterhin galt: keine weißen Blumen, kein weißes Band. Also zurück zur Bibel.

Jesus Syrach sagt im Alten Testament, man solle sich nicht zu klug dünken und jeden tadeln. Und er schreibt, dass ein treuer Freund ein großer Schatz ist. Und er verkündet, dass ein Gottesfürchtiger es gut antreffen wird mit seinen Freunden. War das nicht eindeutig genug für Matthes?

Offensichtlich nicht. Familie Claudius lebte ihr Leben. Ich schaute zu. Niemand schien mich zu vermissen. Gäste kamen und gingen. Es wurde gefeiert, musiziert und gelacht. Die Kinder schossen in die Höhe. Die ältesten Töchter Caroline und Christiane streiften ihre Kindheit ab. Auch an Söhnen herrschte bald kein Mangel mehr: Die beiden Nachzügler Ernst und Franz wurden geboren. Und im Fenster? Bunte Blumen.

Es war nicht so, dass ich ständig das Claudius-Haus im Blick hatte. An Sterbenden gab es weiterhin kein Mangel. In Frankreich wurde eine mechanische Todesart erfunden: das Guillotinieren. Was eine besondere Herausforderung war. Oft ging es rasend schnell, doch manchmal versagte der Mechanismus. Die Kraft züngelte erwartungsvoll hoch, nur ich konnte den Schnitt nicht setzen. Verfluchte Technik. Aber lediglich ein seichter Vorgeschmack auf die Tötungsmaschinen der folgenden Jahrhunderte.

Zwischendurch brachte Matthes einen weiteren Teil seiner gesammelten Werke heraus: Nummer fünf. Fast hätte ich dieses Ereignis verpasst. Gerade als ich meine Beobachtung für diesen Tag einstellen wollte, rumpelte ein Fuhrwerk heran. Beladen mit Büchern.

Plötzlich erwachte das Haus. Matthes trat mit Sohn Johannes vor die Tür. An den Fenstern zeigten sich Gesichter.

„Bringen Sie meine Bücher?“, rief Matthes dem Kutscher zu.

Mehr brauchte ich nicht zu hören. Das musste ein neuer Band sein.

Geld war schnell organisiert. Es lag ja immer welches herum. Die Beschaffung des Buches war jedoch nicht so leicht, weil ich mir zu viel Gedanken machte. Bestellen wollte ich nicht. Matthes hätte davon erfahren können, wenn ein Herr Hein Schneider sein Buch orderte. Die Hamburger Buchhandlungen, wo das Buch vorrätig war, schienen mir zu riskant. Matthes’ Ähnlichkeit mit Opa Nikolaus wurde langsam deutlich. Was, wenn der Händler darüber schwatzte? Ein Käufer des Claudius-Buches, der wie eine ältere Ausgabe des Autors aussah? Das ergab eine nette Anekdote. Und die hätte bis zu Matthes dringen können.

Eigentlich war das Unsinn. Ich musste ja nicht die Gestalt von Opa Nikolaus annehmen. Aber ich war bei allem, was mit Matthes zu tun hatte, so aufgetreten. Vielleicht wurde ich langsam sentimental. Ich. So weit war es schon gekommen.

Doch wo ich auch schaute, niemand hatte das Buch. Ein Verkaufsschlager war es wohl nicht. Schließlich fand ich es beim Buchhändler Hoffmann in Weimar.

„Das Buch ist gerade heute zurückgekommen, mein Herr. Der Herr Geheimrat hat es nicht goutiert“, sagte der Buchhändler zwinkernd.

„Nicht jeder erkennt große Kunst“, entgegnete ich zuversichtlich.

Der Buchhändler gluckste.

„Das lassen wir den Herrn Geheimrat besser nicht hören.“

Ich nickte nur. Was ging mich ein Geheimrat an? Auf gut Glück reichte ich ein paar Münzen hinüber.

„Oh, das ist zu viel, mein Herr.“

Er gab mir alle bis auf eine zurück. Ich verabschiedete mich. Opa Nikolaus’ Gestalt löste ich in der nächsten Seitengasse auf. Mich interessierte nur noch eins: nach Plön ins Schloss zu kommen und Matthes’ neues Werk zu lesen.

Was hatte ich erwartet? Ein offenes Versöhnungsangebot trotz der falschen Blumen im Fenster? Andeutungen zwischen den Zeilen, die eine Annäherung möglich machten? Oder einfach nur ein paar schöne Gedichte als würdige Nachfolger des vierten Bandes? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich maßlos enttäuscht war.

Die paar Gedichte waren nicht der Rede wert. Stattdessen reihten sich lange, lange Texte über religiösen Kram aneinander. Der erste: „Über die Unsterblichkeit der Seele“. Wenn es überhaupt eine Botschaft an mich gab, dann jene, dass Matthes den Tod nicht fürchtete. Und Gott, immer wieder Gott. Ohne seinen Gott schien Matthes keinen Schritt mehr zu machen, keinen Satz mehr zu schreiben.

Es war hoffnungslos. Der Glaube an diesen Herrn Gott hatte Matthes vollends im Griff. Niedergedrückt, halb sitzend, halb liegend, schlaffte ich im Lesesessel ab. Ich ließ das Buch zu Boden gleiten und schaute es nie wieder an.

Trotzdem ging das Leben und Sterben weiter. Ich schnitt, wohin die Kraft mich rief. Suchte meinen Ruf stetig zu verbessern. War sanft und freundlich, wann immer es die Umstände hergaben.

Das Haus an der Lübschen Landstraße behielt ich im Blick, mal weniger, mal mehr. Hoffnung auf ein Ende meiner Verbannung hatte ich kaum noch. Es kam vor, dass ich gar nicht mehr zum Fenster nach den Blumen schaute. Lieber sah ich den Kindern beim Spielen zu, sah die ersten Gehversuche der jüngsten Matthessöhne, sah das Miteinander der Familie.

Vor Matthes war das fast immer so: Ich beobachtete. Mischte mich nicht ein. War bloßer Zuschauer. Ausnahmen wie Eva Maria Thyßen gab es ganz selten. Jetzt sehnte ich mich danach, wieder mittendrin zu sein: mitzulachen, mitzuweinen, zu berühren und berührt zu werden. Ob etwas gut oder schlecht war, ich wollte es mit ihnen teilen. Mit der Zeit wurde das Gefühl schwächer. Ich gewöhnte mich wieder ans Zuschauerdasein. Dachte ich.

Zunächst wollte ich es nicht wahrhaben. Doch es gab keinen Zweifel: Zum ersten Mal nach Matthias Heinrichs Tod gab es einen deutlichen Anstieg der Kraft im Haus.

Eigentlich beobachtete ich die Familie nur von außen, beschränkte mein heimliches Erscheinen im Haus auf besondere Ereignisse. Das war meine Art, den Bann zu respektieren. Diesmal erlaubte ich mir einen Blick hinein.

Christiane lag mit Fieber zu Bett. Eigentlich hätte ich gedacht, sie wäre außer Gefahr, nachdem sie die Kindheit hinter sich gelassen hatte. Aber es war wohl doch mehr als das übliche Flackern der Kraft in jungen Jahren. Und nun würde sie nicht mehr nachgeben. Das spürte ich ganz deutlich.

Christiane
würde sterben.


Kommentar des Autors:

Um eine Buchhandlung zu finden, in der Freund Hain eingekauft hat, war etwas Recherche notwendig, aber es gibt sie wirklich immer noch: Hoffmanns Buchhandlung in Weimar wurde 2010 300 Jahre alt. Wer der Geheimrat war, der das Buch zurückgehen ließ, entzieht sich meiner Kenntnis, ich kenne eigentlich nur einen Weimarer Geheimrat: Der hieß Goethe. Bei den vielen Kindern, die Matthias Claudius mit Rebekka in die Welt gesetzt haben, ist es etwas schwierig, die Namen zu behalten. Ich hoffe, ich habe Christiane oft genug erwähnt, so dass Leser sich hier nicht fragen, wer das denn noch mal war.