40 - Täglich zu singen
Täglich zu singen
Ich danke Gott, und freue mich
Wie ’s Kind zur Weihnachtsgabe,
Dass ich bin, bin! Und dass ich dich,
Schön menschlich Antlitz! habe;
Dass ich die Sonne, Berg und Meer,
Und Laub und Gras kann sehen,
Und abends unterm Sternenheer
Und lieben Monde gehen;
Und dass mir denn zumute ist,
Als wenn wir Kinder kamen,
Und sahen, was der heil’ge Christ
Bescheret hatte, amen!
Ich danke Gott mit Saitenspiel,
Dass ich kein König worden;
Ich wär geschmeichelt worden viel,
Und wär vielleicht verdorben.
Auch bet ich ihn von Herzen an,
Dass ich auf dieser Erde
Nicht bin ein großer reicher Mann,
Und auch wohl keiner werde.
Denn Ehr und Reichtum treibt und bläht,
Hat mancherlei Gefahren,
Und vielen hat’s das Herz verdreht,
Die weiland wacker waren.
Und all das Geld und all das Gut
Gewährt zwar viele Sachen;
Gesundheit, Schlaf und guten Mut
Kann’s aber doch nicht machen.
Und die sind doch, bei Ja und Nein!
Ein rechter Lohn und Segen!
Drum will ich mich nicht groß kastein
Des vielen Geldes wegen.
Gott gebe mir nur jeden Tag,
Soviel ich darf zum Leben.
Er gibt’s dem Sperling auf dem Dach;
Wie sollt er’s mir nicht geben!
Es gibt einiges, was mich im Neuen Testament wundert. Eines aber ganz sicher nicht: dass die Schriftgelehrten Israels mit diesem Jesus nichts anfangen konnten. Sie hatten jemand Anderes erwartet. Einen, der erst mal unter den Völkern aufräumte. Wie in den guten, alten Zeiten. Stattdessen kam ein armer Schlucker, der verkündete: Liebe nicht nur deinen Nächsten, liebe deine Feinde.
Damit fangen die Wunder an: Wie kam der Mann auf diese Idee? Beim Herrn Gott des Alten Testaments finde ich von Feindesliebe keine Spur. Zahlreich sind hingegen die Hilferufe, er möge sich den Feinden Israels auf bewährte Weise annehmen. Jesus bezog sich immer wieder auf die Schriften der Alten. Nur was er lehrte und was geschrieben stand, da sehe ich kaum einen Zusammenhang.
Bei Salomo und Jesus Syrach gibt es einige Hinweise: die Preisung des einfachen gottesfürchtigen Lebens, die Verachtung für Reichtümer. Doch sonst? Mir scheint der Apfel sehr weit vom Feigenbaum gefallen. Ich verstehe nicht, wie Jesus meinen konnte, den Willen seines Herrn Vaters zu erfüllen.
Er war ihm auch strategisch weit überlegen. Der Herr Gott des Alten Testaments fällt regelmäßig von einem Extrem ins andere. Jesus war ebenfalls extrem, blieb jedoch fest in seiner Richtung. Und: Er schickte seine Leute hinaus zu den Heiden. Um sie zu bekehren, nicht um sie abzuschlachten. Die Botschaft war einfach: Glaube an Jesus Christus als Sohn Gottes, glaube an das Licht, glaube an die Liebe, und alles wird gut. So wurde aus einem Stammesgott der Beherrscher der Welt. Rückfälle ins Abschlachten von Ungläubigen inbegriffen.
Matthes wird zuerst die Botschaft der Liebe und des Trostes kennengelernt haben. Naiv ganz vorne zu beginnen, dieser Fehler wird seinen Eltern nicht unterlaufen sein. Der Vater war schließlich ein erfahrener Gottesmann. Ich schätze, von dieser Botschaft aus ist es leicht, an Gott zu glauben. Die Widerwärtigkeiten aus der Frühzeit erscheinen dann in einem milden Licht. Alte Geschichten, die nichts am großen Ganzen ändern. Der Glaube blendet alles aus, was sich damit nicht verträgt. Nicht nur Liebe macht blind.
Ich kann die Augen nicht verschließen. Muss alles mit ansehen, kann niemanden auslassen, wenn es um die letzte Sekunde geht. Selbst wenn ich die Bibel irgendwo anders angefangen hätte: Wahrscheinlich wäre es trotzdem nichts geworden mit dem Glauben. Spätestens wenn ich an die Stellen gekommen wäre, die mich betreffen.
Adam und Eva und ihre Nachkommen und ihre Nach-Nachkommen und Nach-Nach-Nachkommen und so weiter waren anscheinend fürs ewige Leben bestimmt. Denn die Bibelschreiber sind sich einig: Ich bin durch die Sünde in die Welt gekommen. Der eine Biss in den Apfel war meine Geburtsstunde.
Auch mein Ende ist beschlossen: Ich bin der letzte Feind und werde besiegt, wie schon Matthes sagte. Zitiert hatte er Paulus, und Johannes hat’s in der Offenbarung gesehen. Danach ist der Weg frei für das ewige Leben in aller Herrlichkeit.
Diese Mischung aus Klapperstorchlegende und Versprechen für die ferne Zukunft schreckt mich nicht. Viel schlimmer: Ich kann sie nicht ernst nehmen.
Ich bin, was ich bin. Auch wenn ich selbst nicht weiß, was ich eigentlich bin. Ich werde gebraucht, bis der letzte Mensch stirbt. Ob das für mich das Ende ist? Wer weiß. Ob es für die Menschheit ein Nachspiel gibt? Wer es glaubt, mag selig damit werden.
Im Übrigen komme ich nicht nur schlecht weg in der Bibel. Hiob zum Beispiel: Er wird von Herrn Gott in die Hände des Herrn Satans gegeben. Die beiden haben eine Art Wette laufen. Herr Gott wettet! Herr Satan darf Hiob quälen, aber nichts antun. Schließlich leidet der Mann derart, dass er mich herbeiwünscht. Er will nur noch liegen und stille sein, schlafen und seine Ruhe haben.
Auch der weise Salomo preist mich als Erlösung von Elend und Ungerechtigkeit auf Erden. Eigentlich hätte Matthes diese Stelle kennen müssen. Sonst waren Salomos Sprüche und Predigten eine ergiebige Quelle für sein Leben und Werk.
Stattdessen hörte er auf die Kopie. Ein Buch des Alten Testaments namens „Die Weisheit Salomonis“. Luther meinte, der Autor wäre nicht Salomo selbst, sondern jemand, der in der Tradition Salomos geschrieben hatte.
Nur die Gottlosen verbinden sich mit mir, behauptet dieser weise Mann. Sie wollen ihr kurzes Erdenleben in vollen Zügen auskosten, weil kein Gott sie belohnen oder strafen kann. Matthes hat ganz bestimmt über diese Stelle nachgedacht. Glaubte er, dass allein die Verbindung mit mir seinem Gott missfiel? Das wäre nun wirklich zu kleinlich gedacht.
Johannes’ Brief, den er gegen mich verwendet hatte, muss ihm den Rest gegeben haben. Dabei warnt Johannes nur vor Leuten, die Irrlehren verkünden. Die sollen nicht mehr ins Haus gelassen werden. Habe ich eine Irrlehre verkündet? Ich habe nur zugegeben, dass ich nicht glaube. Matthes hatte das Johannes-Gebot ausgedehnt, sich herausgepickt, was ihm gerade zupass kam.
Aber so ist es immer gewesen und ist es noch heute. Jeder pickt sich aus der Bibel, was ihm gefällt. Dass dies Werk als Ganzes nicht zusammenpasst, fällt dann nicht mehr auf. Mir kommt dabei das Jesus-Wort in den Sinn von den Vögeln, die nicht säen, aber doch vom himmlischen Vater genährt werden. So nährt auch die Bibel jeden, der sich sein Menü aus Weisheiten und Geboten herauspickt.
Aber ich – gerade ich – darf nicht ungerecht sein. Bei Matthes muss sich über lange Zeit etwas aufgebaut haben. Über den Umgang mit mir. Ein Unwohlsein. Zweifel. Vielleicht gar Abscheu. Und dann starb Matthias Heinrich. Und er suchte nach Erklärungen. In der Bibel. Wo sonst? Und hat sie gefunden. Doch schuld bin ich ganz allein. Ich hatte ihm zu viel zugemutet. Ich war so glücklich darüber, einen Freund zu haben, eine Familie mitzuerleben. Dabei vergaß ich, wer ich bin. Ich bin noch immer und zuallererst: der Tod.