39 - Niemand hat mir das gesagt ...
Niemand hat mir das gesagt: dass man die Bibel besser nicht von Anfang an liest. Eigentlich hatte ich überhaupt nicht vor, sie zu lesen. Meine einzige Lektüre waren die Fenster im Haus an der Lübschen Landstraße: keine weißen Blumen, kein weißes Band.
Dann schnitt ich einen Pastor in Oldenburg. Er starb allein, während er ein Buch las. Oder anschaute. Aufgeschlagen war es bei einem Holzschnitt mit zwei Nackerten. Ohne groß nachzudenken nahm ich es mit.
Im Plöner Schloss sah ich, dass ich Band I einer Luther-Bibel erwischt hatte. Also musste es einen Band II geben. In Oldenburg hatte noch niemand den Toten bemerkt. Der Band lag griffbereit auf dem Tischchen neben dem Lesesessel. Besten Dank.
Zurück im Schloss betrachtete ich meine Beute. Zwei dicke, schwere Bücher in Leder gebunden, metallverstärkt an den Ecken. Mit Holzstichen, Randglossen und Wörtern, Wörtern, Wörtern. Sollte ich wirklich? Vielleicht würde ich ja bekehrt.
Vielleicht wenn ich mit dem Neuen Testament angefangen hätte. Vielleicht. Die Bergpredigt, die hat was. Aber ich begann dort, wo man gemeinhin anfängt: am Anfang. Ich habe kein Glück mit Anfängen. Nach 50 Seiten schien mir Herr Gott suspekt. Nach spätestens 200 war er für mich erledigt. Und im Fenster: keine weißen Blumen, kein weißes Band.
Ich will nicht auf den Ungereimtheiten der Schöpfungsgeschichte herumhacken. Die ist wer weiß woher zusammengestoppelt. Was mir gegen den Strich ging, war die Moral dieses Herrn Gott. Das fing bei Noah an:
Nach dem Ausstieg aus der Arche bringt Noah ein paar reine Tiere und Vögel als Brandopfer. Was an sich schon eine Idee ist, für die er geschnitten gehörte. Herr Gott wird jedoch besänftigt vom Geruch des Gebratenen. Die beiden schließen einen Bund. Herr Gott meint zwar, die Menschen seien von Jugend an böse, aber: Er „will hinfurt nicht mehr schlahen alles was da lebet / wie ich gethan habe“, schreibt Luther.
Und Sodom und Gomorra? Ausnahmen bestätigen die Regel? Herrn Gotts Bestrafungsaktionen sind gelinde gesagt willkürlich. Ein Beispiel: Eines Tages liegt Noah halbnackt und besinnungslos betrunken in seiner Hütte. Der jüngste Sohn Ham sieht Vaters Blöße, alarmiert seine Brüder. Die schnappen sich ein Stück Stoff. Nähern sich rückwärtsgehend dem alten Herrn und bedecken ihn. Werden dafür gelobt, nur Canaan, der jüngste Sohn von Ham, wird für alle Zeiten verflucht. Warum auch immer. Aber dass Herr Gott ein ernstes Wörtchen mit Noah wegen seiner Trinkerei gesprochen hätte, darüber ist nichts bekannt.
Und so geht das weiter. Wen Herr Gott ins Herz geschlossen hat, der kann sich alles erlauben. Jakob erschummelt seines blinden Vaters Segen. Kein Problem. Joseph wird von seinen elf Brüdern nach Ägypten verschachert. Kein Problem. Ihrem Vater Jakob machen sie vor, er wäre von wilden Tieren zerrissen worden. Auch kein Problem. Stattdessen: Nachdem sie in Ägypten tränenreich wieder vereint sind, werden die zwölf Brüder die Stammväter Israels.
Und dann der Auszug aus Ägypten: Da wurde ich zornig. Klappte das Buch zusammen und wollte es aus dem Fenster werfen. Zum Glück fiel mir rechtzeitig ein, dass ich damit mein Versteck verraten würde. Das war die Sache nicht wert.
Die Geschichte ist bekannt: Moses soll Israel aus Ägypten hinausführen, aber der Pharao will sie nicht lassen. Also bringt Herr Gott die Plagen über Ägypten. Was nicht mehr so bekannt sein dürfte: Es war ein abgekartetes Spiel.
Moses und sein Bruder Aaron sollten vom Pharao fordern, das Volk Israel ziehen zu lassen. Und dann schreibt Luther Gottes Wort: „Aber ich will Pharao hertz verherten / das ich meiner Zeichen und Wunder viel thu in Egyptenland“. Der Pharao hatte also gar keine Chance. Die ganze Aktion diente nur dazu, dass Herr Gott seine Zauberkunststückchen vorführen konnte. Damit Israel sein Volk wird. Schönes Volk hat er sich ausgesucht.
In den ganzen Geschichten der alten Könige Israels geht es immer wieder darum, dass sein Volk abtrünnig wird. Egal wie viele Wunder Herr Gott spendiert. Hätte er das nicht voraussehen und sich ein dankbareres Volk aussuchen können? Aber mit dem Voraussehen ist es bei Herrn Gott nicht weit her. Das zeigt die Geschichte mit dem Goldenen Kalb:
Herr Gott ruft Moses zu sich auf den Berg. Diktiert ihm ausführliche Anweisungen, wie sein Tempel auszustatten sei. Der Herr der Welt, Lenker des Universums, macht sich Gedanken um die Innenausstattung seiner Hütte auf Erden. Allein das ist schon lächerlich. Wird aber noch übertroffen.
Während Herr Gott Moses einen Vortrag über Teppiche, Leuchter und Farben hält, langweilt sich das Volk Israel. Bruder Aaron soll ihnen einen Gott zum Anbeten erstellen: das Goldene Kalb.
Und Herr Gott wird zornig. Obwohl er die Geschichte hätte voraussehen müssen oder verhindern können. Moses versucht ihn zu besänftigen. Mit welchem Argument? Mit dem wohl dümmsten Argument, das jemals vorgebracht wurde. Luther lässt Moses sagen: „Warumb sollen die Egypter sagen / und sprechen / Er hat sie zu irem unglück ausgefürt / Das er sie erwürget im Gebirge / und vertilget sie von dem Erdboden.“
Nachdem Herr Gott Frösche, Ungeziefer, Hagel, Heuschrecken und andere Bösartigkeiten über Ägypten gebracht hat. Nachdem Herr Gott jeden Erstgeborenen in Ägypten gemeuchelt hat. Nachdem er den Pharao und sein Heer ins rote Meer gelockt und ersäuft hat. Nach all dem soll er sich Sorgen um seinen guten Ruf bei den Ägyptern machen?
Was sagt Herr Gott dazu? Luther schreibt: „Also gereuet den HERRN das ubel / das er dreuete seinem Volck zu thun.“
Was habe ich gelacht. Tränen. Und das geht immer so weiter: Volk benimmt sich daneben. Herr Gott ist eingeschnappt und will es züchtigen. Moses legt sich mit dem Gesicht in den Staub, um das Schlimmste zu verhindern. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.
Herr Gott steht nicht über den Dingen, er schwankt hin und her. Jeder sturmgepeitschte Baum strahlt mehr Souveränität aus als dieser Kindgott. Und weil Moses den Spielverderber mimt, darf er nicht ins gelobte Land. Wo „Milch und Honig“ fließen. Eine Wendung, die nicht mehr gebraucht wird, als das Volk Israel tatsächlich dort ankommt. Denn im gelobten Land fließt nur eins: das Blut der Menschen, die sich unvorsichtigerweise dort niedergelassen haben. Herr Gott vergaß wohl, ihnen mitzuteilen, dass er reserviert hatte. Dafür kann er sich nun als Kriegsgott zeigen. Er gibt die Völker den israelischen Kriegern „in die Hand“. Eine vornehme Umschreibung dafür, dass sie gnadenlos abgeschlachtet werden.
Zwei Fragen begannen mich zu beschäftigen. Wie konnte dieser Kriegs- und Stammesgott Israels zum allmächtigen Gott der halben Menschheit werden? Und das, obwohl ihm alle anderen Völker außer seinem eigenen gleichgültig waren. Er benutzte sie nur als Spielmaterial – nach Belieben kaputt zu machen und wegzuwerfen. Und noch viel dringlicher: Wie konnte Matthes an diesen Herrn Gott glauben?