37 - Matthias Heinrich starb ...
Matthias Heinrich starb am 4.7.1788. Auch dieses Datum habe ich nachschlagen müssen. Obwohl dieser Tag so einschneidende Folgen hatte, wusste ich es nicht mehr. Wie unterscheidet man ein Jahr vom anderen? Ich kann’s nicht.
In seinen knapp zwei Lebensjahren war der Kleine oft krank gewesen. Sein Schicksal hatte sich angekündigt. Matthes hätte vorbereitet sein können. Aber er wollte ja nicht auf mich hören.
Die Kraft wuchs schnell. Matthias Heinrich musste nicht leiden. Morgens war er im Fieber und kaum wach zu bekommen. Mittags war er tot. Trotzdem war es grässlich: Rebekka stürzte sich auf das tote Kind. Matthes stand in der Tür, schlug die Hand gegen den Türrahmen und rief: „Nein, nein, nein.“
Dann drehte er sich abrupt um, lief aus dem Haus und schrie:
„WO BIST DU?“
Das hörte ich noch. Dann konnte ich es nicht mehr ertragen. Obwohl es die millionste Variation der immer gleichen Szene war: Ich litt mit ihnen. Meine Abstoßungskräfte für jede Art von Gefühl beim Schnitt waren hier nicht mehr stark genug. Es war kein schönes Gefühl, aber es war immerhin eins. Wenn ich diesen Preis für unsere Freundschaft zahlen musste, dann war ich bereit dazu.
Bald nach der Beerdigung nahm Matthes wieder seine einsamen Spaziergänge am frühen Morgen auf. Ich ließ mir Zeit. Wollte es richtig machen. Matthes sollte verstehen, dass ich ihren Verlust mitfühlte. Dass dieser Verlust gleichzeitig ein Gewinn war, der mich ihnen näher brachte.
Ich feilte an meiner Rede. Versuchte, mich in Matthes hineinzuversetzen, um die rechten Worten zu finden. Und als ich so weit war, packte das Leben wieder eine seiner Überraschungen aus.
Matthes sah mich, ging einfach weiter und sagte ganz beiläufig:
„Sieh an, da ist er ja endlich. Ich habe auf ihn gewartet.“
Als ob er mit sich selbst spräche. Ich holte zu meiner Rede aus:
„Matthes, ich weiß, dass du …“
„Nein, er weiß nicht.“
„Nun warte, hör mich doch an.“
„Tut mir leid, Hain. Ich muss ihm ganz unhöflich das Wort abschneiden und Folgendes zur Kenntnis bringen: Ich erkläre unsere Freundschaft für beendet. Ein Gottloser, der mir die meinen nimmt, kann nicht mein Freund sein.“
„Aber, Matthes. Ich muss der Kraft folgen. Ich kann sie nicht aufhalten. Lass mich …“
„Du musst? Vielleicht meint er ganz aufrichtig zu wissen, dass er die so bezeichnete Kraft nicht aufhalten kann. Nur sein Wissen ist unnütz, da es nicht im Glauben gegründet ist.“
„Fang doch nicht wieder damit an.“
„Doch genau damit – und es ist bezeichnend, dass er es nicht einmal auszusprechen wagt –, mit dem Glauben an Gott fange ich an und ende ich. Ich hätte das schon viel früher tun sollen. Wenn er glauben würde, wenn er an den allmächtigen Gott glauben würde und sein Schicksal akzeptierte, dann ...“
„Welches Schicksal?“
„Hain, es steht alles geschrieben. Lese er Gottes Wort. Er ist der letzte Feind und wird besiegt, bevor wir das ewige Leben erlangen.“
„Ach, Matthes …“
„Nein, nein. Wenn du an Gott glaubtest und akzeptiertest, dass er dich besiegen wird, dann bin ich sicher, Gott würde sich dir barmherzig zeigen. Und erst dann könntest du wissen, ob die Kraft nicht doch durch Gottes Gnade zu beeinflussen wäre. Nur solange du nicht glaubst, tappst du im Dunkeln und meinst zu wissen, dass du nichts tun kannst, außer deiner schäbigen Berufung zu folgen.“
Schäbige Berufung? Das war ein harter Schlag. Ich konnte nicht mal wütend werden, fühlte mich nur noch kraftlos.
„Aber gibt es nicht einen Weg, wie wir trotzdem …“
„Es gibt keinen Weg außer jenem, den ich ihm beschrieben habe. Es ist höchste Zeit, ihn zu gehen, aber jeder muss diesen Weg allein beschreiten, sonst ist es nicht der wahre Weg. Denke er nicht, dass ich vergessen habe, was er für mich getan hat. Ich weiß, sein Kern ist gut, deshalb bin ich voller Hoffnung, dass er den wahren Weg finden wird. Doch solange er nicht mit Gott ist, darf er nicht mehr Gast in meinem Hause sein. Er kann das in der Bibel nachlesen: Johannes hat im zweiten Brief an seine Glaubensbrüder davor gewarnt, Gottlose in ihre Häuser aufzunehmen. Das schwächt den Glauben, wie ich selbst spüren musste, als Matthias Heinrich starb. Ich habe Gottes Botschaft verstanden, wir müssen uns trennen. Und bitte versuche er nicht, hinter meinem Rücken mit Rebekka oder den Kindern zu sprechen. Die Tür ist zu.“
Ich schaute Matthes an. Ich schaute meinen Matthes an. Nichts. Sein Blick war kalt. Seine Körpersprache abweisend. Ich fühlte mich hilflos. Mir blieb nur noch der Rückzug.
„Sag Rebekka bitte, dass es mir um Matthias Heinrich sehr leid tut. Euer Verlust ist auch der meine.“
Matthes nickte nur. Meine Worte klangen hohl und hölzern. Was ich mir zurechtgelegt hatte, war wertlos geworden.