Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

36 - Brandgesang

 

Brandgesang
Von den Gebrüdern Quarz

Komm her, du weichgeschaffne Schar,
      Das Lied vom Brand zu lesen,
Der an dem siebten Januar
      In Wandsbeck ist gewesen.

Ich sing es ab, so gut ich kann,
      Mit meiner dürren Kehle;
Doch mach ich traurig jedermann
      Durch das, was ich erzähle.

Und wen das Lied nicht traurig macht,
      Kann zu den Türken ziehen!
Das Haus war nicht voll Gold und Pracht,
      Doch war es voll von Kühen.

In Hamburg auf dem Jungfernsteig,
      So beim Spazierengehen,
Hat vor fünf Tagen arm und reich
      Den Vorbrand schon gesehen:

Die rote Flamme flimmerte,
      Man hörte Klocken läuten,
Ein Laut von Kühen wimmerte;
      Das musste was bedeuten!

Zwar mancher Mathematikus
      Behielt noch seinen Zweifel;
Die glauben keinen Pferdefuß,
      Nicht Vorbrand oder Teufel!

Allein wir haben’s nun gesehn:
      Das Ding hat wahrgesaget!
Man muss nicht alles gleich verschmähn,
      Was einem nicht behaget!

 

Ich muss immer aufpassen, wenn ich eins von Matthes’ Gedichten lese. Meint er es so, wie er es schreibt? Gerade beim Brandgesang komme ich ins Grübeln. Das Gedicht ist nah am tatsächlichen Geschehen. Aber glaubte er an diesen Vorbrand? Oder gab er nur wieder, was die Leute im Dorf dachten?

Der Untertitel „Von den Gebrüdern Quarz“ zeigt eine Rolle an, in die Matthes geschlüpft ist. Trotzdem könnte es sein, dass er tatsächlich an diesen Vorbrand glaubte. Als eine Art göttliches Zeichen. Und dann versteckte er sich hinter der Rolle. Zuzutrauen wäre es ihm.

Ich habe vor allem ein Problem damit, weil die Kraft mir eine Vorwarnung vor dem Brand gab. Aber warum? Wenn jemand älter wird und die Kraft wird größer, klar. Wenn jemand krank wird, auch klar. Bei Kindern das Flackern, das verstehe ich noch. Aber bei einem in der Zukunft liegenden Unfall? Das kapiere ich einfach nicht. Wie kann die Kraft größer werden? Der Auslöser für den Todesfall liegt außerhalb des Körpers und ist noch gar nicht in Gang gesetzt.

Tage bevor der Brand passierte, lag über Wandsbeck eine Kraftwolke. Deshalb bin ich auch hin. Tatsächlich ist niemandem außer den Kühen etwas passiert. Es lag nur in der Luft. Eine schlechte Aura. Eine Wahrscheinlichkeit. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht mal, wie ich das untersuchen könnte. Und selbst wenn ich es wüsste: Was nützte es mir? Ich muss der Kraft gehorchen. Das weiß ich.

 

Zu Wandsbeck auf der Meierei,
      Die uns nicht zugehöret,
Der Kühestall voll Stroh und Heu
      Vom Feuer ward verzehret.

Am Mittewoch; die Kirchenuhr
      Hat eben zwei geschlagen.
Vom Ursprung hat man keine Spur:
      Soviel kann ich euch sagen.

Doch wenn’s nur bloß der Kühstall wär,
      Wär der Verlust nur eitel;
Den stellt man leichte wieder her
      Aus einem großen Beutel.

Allein das liebe, arme Vieh
      Kam mit dem Stall ums Leben!
Es hatte noch des Morgens früh
      So schöne Milch gegeben;

Und musste nun so jämmerlich
      Im Stall gebraten werden!
Das Herz im Leibe wendet sich:
      So liegen sie zur Erden!

Der Bär in Jüthorn roch den Ruch;
      Sein Blut fing an zu kochen;
Flugs schrieb er in sein Tagebuch:
      „Es hat heut stark gerochen!!!”

 

Der mittlere Teil des Brandgesangs gefällt mir nicht besonders. Matthes hat schon besser gedichtet. Und der Humor scheint mir nicht passend. Soll nicht heißen, Humor wäre bei solch dramatischem Ereignis unpassend. Ganz oben in der dritten Strophe von den Türken, vom Gold und den Kühen: Das ist unnachahmlich Matthes’ Humor. Aber hier trifft er nicht den richtigen Ton.

Als der Brand ausbrach, zählte ich als erstes meine Claudiusse. Die drei großen Mädels Caroline, Christiane und Anna saßen bei Oma Behn am Webstuhl. Die Jüngeren hockten bei Rebekka in der Stube. Matthes sprach in der Kirche mit dem Pastor. Alles in Ordnung, dachte ich. Bis ich Rebekka schreien hörte.

Längst waren die Wandsbecker auf den Beinen. Ein hastiges Hin und Her. Aufgeregte Rufe hatten die Nachmittagsstille zerstört. Die Kirchturmglocke schlug Alarm. Zwischen all dem war Rebekkas Stimme laut und deutlich zu vernehmen:

„ANNA!“

Es war nicht das erste Mal, dass ich einen solchen Schrei hörte. Und viele sollten folgen. Aber zum ersten Mal spürte ich die tiefe Not, sah die schrecklichen Visionen und hörte das Grauen in diesem Schrei. Nackte Angst war’s – die Angst der Gefangenen vor der glühenden Zange.

Mir blieb nichts Anderes übrig, als mitten in Wandsbeck sofort Gestalt anzunehmen. Zum Glück bemerkte mich niemand in dem Wirrwarr. Rebekka lief Richtung Meierei. Ich hinterher.

„Rebekka!“

Sie hörte mich nicht.

„REBEKKA!“

Sie schaute sich um. Immer noch laufend.

„Warte! Es ist alles in Ordnung.“

Endlich blieb sie stehen.

„Anna ist bei Muttern.“

„Woher wissen Sie …?“

Ja, woher wusste ich das? Ich brauchte ganz schnell eine glaubhafte Erklärung.

„Ich habe sie am Fenster gesehen. Mutter Behn hat die Mädchen nicht hinausgelassen.“

„Gott sei Dank. Ich hatte solche Angst. Anna sollte bei Bauer Hansen Eier holen und als ich das Feuer sah, dachte ich …“

„Nun, anscheinend hat sie unterwegs eine Rast eingelegt. Der weite Weg, die jungen Beinchen.“

Rebekka konnte noch nicht wieder lachen.

„Haben Sie Matz gesehen?“

„Er wird beim Löschen helfen.“

Kaum ausgesprochen, sah ich ihn eiligen Schrittes auf uns zukommen. So richtig laufen war ihm nicht mehr gegeben. Auch Matthes wurde älter.

„Betty, mein Liebes!“

Rebekka drehte sich um.

„Wo sind die Kinder?“

„Keine Sorge, Matz. Die drei Großen sind bei Mutter und die Kleinen zu Hause. Ich hatte Angst um Anna, die eigentlich bei Bauer Hansen sein sollte, aber unser Freund Schneider hat sie bei Mutter gesehen.“

Matthes schaute mich fragend an. Ich nickte bestätigend.

„Nun, wenn Freund … Schneider sie gesehen hat, werden sie wohlauf sein. Die Meierei ist nicht mehr zu retten. Zu viel Holz und Stroh.“

Wir sahen hinüber zu den Flammen in der Ferne.

„Und die Kühe?“, fragte Rebekka.

Mit verkniffenem Mund schaute Matthes sie an und schüttelte den Kopf.

„Oh“, war alles, was Rebekka hervorbrachte, bevor ihr Tränen in die Augen traten. Matthes legte einen Arm um sie, sah zu mir hinüber. Sein Blick kummervoll. Ich wollte ihm zu verstehen geben, dass ich hier genauso hilflos war wie sie. Doch ich blieb starr und stumm. Matthes sah wieder zum Feuer. Der gemeinsame Moment hatte sich verflüchtigt.

 

Die Sturmklock auf dem Kirchturm rief
      Den ganzen Ort zusammen,
Und wer nur laufen konnte, lief
      Mit Eimern zu dem Flammen.

Die Sprützen kamen auch herbei,
      Und fingen an zu sprützen;
Allein ein Haus voll Stroh und Heu
      Lässt sich so leicht nicht schützen.

Und so half nicht Natur noch Kunst,
      Nicht Tiefsinn noch Getümmel;
Und wie gesagt, die Feuerbrunst
      Stieg lichterloh gen Himmel.

Wie hoch nun wohl der Schaden wär,
      Das lässt sich so nicht schätzen;
Wir aber wollen ungefähr
      Sechstausend Taler setzen.

Nun wünschen wir, dass Jud und Christ
      In diesem neuen Jahre,
Vor allen wer dies Brandlied liest,
      Solch Unglück nicht erfahre.


Kommentar des Autors:

Ich habe hier etwas geschummelt, denn der Gedichttitel enthält noch die Jahreszahl 1778. Die Geschichte von Freund Hain ist jedoch schon 10 Jahre weiter. Der Satz „So richtig laufen war ihm nicht mehr gegeben“ kommt hingegen mit ziemlicher Verspätung, denn es gibt schon aus dem Jahr 1775 einen Brief von Matthias Claudius, in dem er schildert, dass er nach einer langen Kutschfahrt wegen steifer Knie kaum gehen konnte.