35 - Glaubst du an Gott?
„Glaubst du an Gott, Freund Hain? Sage mir, glaubst an den einen Gott?“
Mit Matthias Heinrich war von Anfang an alles schief gegangen. Er kam nicht wie erwartet direkt nach dem ersten Sohn Johannes. Dazwischen hatte sich ein weiteres Mädchen gedrängt, nach ihrer Mutter Rebekka getauft. Als ich den Kleinen zum ersten Mal sah, wusste ich: Dieses Kind würde nicht lange leben. Doch aus irgendeinem nicht fassbaren Grund war Matthes von Matthias Heinrich völlig eingenommen.
Ich versuchte es zuerst mit Andeutungen. Es wäre nicht gut, sein Herz zu sehr an ein Kind zu hängen. Wer weiß, was die Zukunft brächte. Nichts zu machen.
„Ich habe ihn Matthias Heinrich taufen lassen. Was soll ihm geschehen, wenn er deinen und meinen Namen trägt?“
Von Hain oder Hein zu Heinrich ist es ein Stück Weg. Matthes focht das nicht an. Für seinen zweiten Sohn war ihm kein Weg zu weit.
Nun hatte ich gedacht, es wäre ein guter Zeitpunkt. Das Claudius-Orchester hatte gespielt. Matthes am Clavichord. Seine Töchter begleiteten ihn mit Stimme oder Instrument. Selbst Mutter Rebekka hatte Violoncello spielen gelernt. Seine Phantasie war, demnächst mit der ganzen Familie bei Veranstaltungen in der Umgebung aufzutreten.
Das Konzert war durchaus gelungen. Der Hausherr lobte Töchter und Rebekka überschwänglich. Anschließend mach-ten wir beide uns zu einem Spaziergang davon. Matthes gönnte sich ein Pfeifchen. Seine Stimmung hatte sich während unseres Ganges von Euphorie zu einer frohen Besinnlichkeit abgedämpft. Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich tastete mich vor zu der Mitteilung, dass Matthias Heinrich kaum seinen zweiten Geburtstag erleben würde. Doch mitten hinein haute Matthes seine Frage nach Gott. Ich versuchte auszuweichen:
„Hatten wir das nicht schon? Ich sagte doch vor langer Zeit: Alles, was ich über Gott weiß, stammt aus den Erzählungen der Menschen.“
„Nein, mein lieber Freund, meine Frage ist nicht, was du über Gott weißt. Meine Frage ist: Glaubst du an den einen Gott, den Schöpfer von Himmel und Erde und allem, was hier lebt und webt?“
„Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Ich habe dir etwas Wichtiges über Matthias Heinrich mitzuteilen. Es ist an der Zeit für mich, den Hut abzunehmen, so wichtig ist es, verstehst du?“
„Mir ist lange klar, worauf du hinaus willst, Freund Hain, unterschätze mich nicht. Meine Frage zielt genau darauf ab, dir zu zeigen, dass es keine sonderlich gute Idee ist, Prognosen über Leben und Tod abzugeben, ohne sich bewusst zu sein, wer die Fäden in der Hand hält. Also noch mal: Glaubst du an Gott?“
Ich hub an, etwas zu sagen, fand aber keine Worte. Glaubte ich an Gott? War Gott mein Auftraggeber? Ich suchte, meine Gedanken zu sammeln.
„Die Frage hat sich mir noch nie gestellt, Matthes.“
„Ich tue es aber jetzt, Hain.“
„Das habe ich verstanden. Was ich sagen wollte: Der Glaube an Gott oder an die Götter anderer Völker gehörte für mich immer zur Sphäre des Menschlichen. Damit hatte ich nichts zu tun. Es erleichtert mir höchstens die Arbeit, für die ich bestimmt bin. Über alles Weitere habe ich mir nie Gedanken gemacht. Und wenn du mich jetzt so eindringlich fragst: Ist das nicht die Frage nach meinem Auftraggeber?“
„Nein, mein Freund, nicht unbedingt. Gott muss nicht dein Auftraggeber sein. Paulus schreibt in den Römerbriefen, dass der Tod durch die Sünde in die Welt gekommen sei. Und im Weisheitsbuch Salomonis heißt es ‚Gott hat den Tod nicht gemacht.’ Du siehst, der Glaube an Gott ist nicht gleichzusetzen mit dem Glauben daran, wer dein Auftraggeber ist. Bleibt folglich die Frage bestehen: Glaubst du an Gott?“
Diese Beharrlichkeit war nervtötend. Mir war längst klar, dass ich nicht an Gott glaubte. Und auch nicht an die Götter der Römer, der Griechen, der Inder oder Chinesen. Was war zu tun? Muss eine Freundschaft nicht die Wahrheit vertragen? Muss sie jede Wahrheit vertragen?
„Ich bin kein Mensch, Matthes. Ich bin … der Tod. Ich weiß nicht, wer mich lenkt oder ob mich jemand lenkt. Ich kann nichts darüber sagen, was ich glaube. Der Glaube ist eine menschliche Eigenschaft. Ich glaube nicht, ich bin … was auch immer.“
„Also doch. Du glaubst nicht an Gott. Das dachte ich mir. Wenn du nämlich an Gott glaubtest, mein Freund, dann würdest du es nicht wagen, Vorhersagen zu machen, denn Leben und Tod liegen in Gottes Hand, nicht in deiner. Deshalb verschone mich bitte mit diesem Geschwätz über Matthias Heinrich. Ich glaube an Gott und ich glaube, dass er es gut meint mit jenen, die ihm dienen. Warum sollte er mich mit dem Tod meines jüngsten Sohnes strafen? Acht Kinder hat er uns geschenkt, davon sechs Mädchen, und alle wachsen in gottesfürchtiger Art und Weise auf. Ich sehe keine Veranlassung, den Zorn des Herrn auf mich gezogen zu haben. Und ich will ihm auch in Zukunft keine Veranlassung dafür geben, sondern in aller Demut darum bitten, den meinen die ihnen zustehende Lebensspanne zu geben, um die Wunder dieser Welt, die er geschaffen hat, zu betrachten und zu preisen. Dann mag er entscheiden und nicht du, Freund Hain. Aber nun kein Wort mehr davon. Lass uns den schönen Tag genießen. Der Herr wird’s schon richten.“
Schweigend setzten wir unseren Gang fort. Die Kluft zwischen uns war nicht in Metern zu messen. Es war traurig. So oft hatte ich Menschen gesehen, die Opfer von Mord und Totschlag im Namen des Herrn wurden. Wenn es diesen Herrn gab, warum spaltete er die Menschen? Warum spaltete er Matthes und mich? Und warum musste es noch schlimmer kommen?