Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

34 - Mit der Zeit ...

 

Mit der Zeit wurden meine Stippvisiten bei Matthes seltener. Lieferungen von Lebensmitteln und anderen nützlichen Dingen waren nicht mehr notwendig. Die Familie Claudius kam ganz gut klar. Auch meine Beobachtungsphasen verkürzten sich. Die Zeit der Krisen schien vorbei.

Das neue Haus spielte eine Rolle. Matthes hatte oft Besuch, der nun für ein paar Nächte Platz fand. Dann blieb ich lieber weg. Ich wollte keine neuen Bindungen. Jeder weitere gemeinsame Bekannte oder Freund hieß weitere Todesbotschaften, die zu überbringen wären.

Die längeren Pausen änderten nichts. Matthes und Rebekka begrüßten mich stets, als ob ich erst gestern da gewesen wäre. Der Bund schien fest geschlossen. Ich fühlte mich sicher in dieser Freundschaft. Doch Sicherheit gibt es nicht im Leben. Das hätte ich wissen müssen. Gerade ich.

Durch meine selteneren Besuche bekam ich nicht mehr alles mit, was im Hause Claudius geschah. Das hatte einmal einen angenehmen Nebeneffekt: Ich traf Rebekka alleine an.

Als ich klopfte, öffnete Christiane, Tochter Nummer zwei.

„Ich wünsche einen guten Tag, Christine.“

„Christiane!“

„Sagte ich doch: Diane.“

Sie kicherte.

„Onkel Hein, du bist blöd“, rief sie und schlug sich erschrocken die Hände vor den Mund.

„Nein, nicht Blöd, Schneider ist mein Name.“

Ich tätschelte ihr den Kopf, lächelte sie an. Ihr Gesicht hellte sich auf. Sie verstand.

„Papa ist nicht da. Ich hol die Mama.“

„Mach das, Tianchen.“

Die Kraft flackerte immer noch in ihr. Zu stark eigentlich für ihre zehn Jahre. Rebekka kam zur Tür, mal wieder schwanger.

„Herr Schneider. Warum lässt sie Christiane an der Tür stehen? Kommen Sie doch herein.“

„Sie meinte wohl, dass man nicht einfach jeden Hergelaufenen einlassen sollte, wenn der Herr Papa nicht da ist. Recht hat sie.“

„Sie übertreiben, Herr Schneider. Warum müssen Männer immer übertreiben?“

„Gute Frage. Im Interesse der Männerwelt sollte meine Antwort wohl bedacht sein.“

Ich folgte Rebekka in die Wohnstube. Die war wie immer blitzblank und blumengeschmückt. Vom Garten hinterm Haus hörte ich Kinderstimmen.

„Setzen Sie sich bitte. Coffee?“

„Nein, nein, keine Umstände. Ruh dich aus, Rebekka, setz dich auch. Ich wollte nur kurz vorbeischauen. Aber der Dichter ist nicht da?“

„Matz ist in Schlesien. Er hat lang versprochen, den Verleger Loewe zu besuchen, und Graf Haugwitz wollte ihn auch von Angesicht zu Angesicht sehen. Bisher kennen sich die beiden nur brieflich. Der Graf hat eine Einladung und Reisegeld geschickt. Da konnte Matz die Fahrt nicht mehr hinauszögern.“

„Graf Haugwitz? Ist das der Rentengeber?“

„Nein, das ist ein Graf von Schlabrendorf. Aber Graf Haugwitz hat die Empfehlung für Matz gegeben. Das sind Freimaurerverbindungen, über die natürlich nicht gesprochen wird.“

„Männer können nicht nur übertreiben, auch schweigen.“

„Na, Herr Schneider, zum Schweigen sind Sie nicht gekommen. Wie steht es nun mit der wohl bedachten Antwort auf die Frage, warum Männer immer übertreiben?“

Rebekka lächelte mich an. Sie war immer noch ein schönes Menschenkind. Die vielen Geburten, ein lange Zeit karger Haushalt hatten ihr nichts an Schönheit genommen. Ihre blauen Augen blitzten mich erwartungsvoll an.

„Ja. Jetzt sitze ich in der selbst gegrabenen Grube. Also, wohl bedacht. Warum Männer immer übertreiben? Hm, lass mich so anfangen: Ein Apfelbaum bringt jeden Sommer viele, viele Äpfel hervor. Alle Bäume tragen zu dieser Zeit Früchte im Übermaß: die Eichen, Haselnussbäume, Kastanien. Da kannst du jeden Baum fragen. Statt nur einer Frucht bringen sie unzählige hervor. Die Natur übertreibt. Denn Übertreiben heißt Leben geben. Die Übertreibung der Männer ist also nur ihre Art auszugleichen, dass sie kein Leben geben können. Zufrieden?“

Sie klatschte einmal die Hände zusammen.

„Das ist eine sehr schöne Erklärung. Bravo, Herr Schneider. Matz hätte sich nichts Besseres ausdenken können.“

„Was heißt ausdenken? All das ist wahr. Die Frucht jahrelangen Nachdenkens.“

„Sie können es nicht lassen, nicht wahr?“

„Nein, Leben geben ist etwas Schönes. Ich kenne auch die andere Seite. Doch damit möchte ich dich nicht behelligen.“

Ihr Lächeln, die blitzende Augen, wichen langsam einem ernsteren Gesichtsausdruck. Sie nickte nachdenklich.

„Ach, jetzt habe ich dir die Stimmung verdorben.“

„Ist schon recht, Herr Schneider. Matz sagt immer, wir sind hier nicht zum Gaukelspiel, wir sind hier, um uns vorzubereiten auf die Ewigkeit. Lustigsein ist schön, aber das Leben ist mehr.“

„Das erinnert mich daran, was ich schon immer mal fragen wollte: Wie ist das Leben an der Seite eines berühmten Dichters?“

Ihr Blick wandte sich nach innen. Das Lächeln kehrte zurück. Ihre Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck, als sie ihren Mann dachte.

„Das haben Sie damals als erstes zu mir gesagt, nicht wahr? Der berühmte Dichter Matthias Claudius. Sicher ist es schön, von Zeit zu Zeit gelehrte Gäste im Haus zu haben, die von weit herkommen, um ihn zu sehen. Doch das ist nicht wichtig. Matz ist mein Mann, ein guter Mann. Hier im Dorf hört man so einiges, im Klatschen sind auch die Wandsbecker groß. Wenn ich es nicht selbst wüsste, spätestens wenn ich höre, was in anderen Ehen passiert, ist mir klar, ich habe es gut getroffen. Dieser Mann ist mein Glück.“

„Oho! Schade, dass der Ehemann nicht zu Hause ist. Das würde ihm heruntergehen wie Sahnecoffee.“

„Was denken Sie von mir, Herr Schneider? Ich sage ihm das jeden Tag, den der Herr uns gemeinsam schenkt. Und nicht zu vergessen: Er ist ein wunderbarer Vater. Mir ist kein Ehemann bekannt, der sich so um die Kinder kümmert wie Matz und für die Erziehung der Mädchen sorgt. Caroline und Christiane sind jetzt schon gebildeter als ich es bei der Heirat war. Das ist gut so. Die Mädchen sollen wissen, dass es mehr gibt als Kinderkriegen, Kochen und Putzen.“

„Schadet ihnen das nicht bei der Suche nach dem rechten Heiratskandidaten? Die Bauernburschen hier mögen es bestimmt nicht, wenn ihnen ein Mädel vom Kopf her überlegen ist.“

Mein Gesicht aus Stein half nicht. Rebekka durchschaute mich.

„Sie machen sich lustig, aber Sie meinen das nicht so. Männer! So leicht zu durchschauen. Glauben Sie, ich habe damals nicht bemerkt, dass Sie mich unter einem Vorwand zu dem berühmten Dichter lotsen wollten?“

„Ich? Ich doch nicht.“

„Ja, genau Sie. Aber ich war neugierig und deshalb machte ich mit. Ich habe es nicht bereut. Und auch die Mädchen werden es nicht bereuen, wenn sie neugierig bleiben auf all die Dinge, von denen die Wandsbecker Buben nicht einmal träumen.“

„Ah, das ist der Plan. Die Mädchen sollen in die feine Hamburger Gesellschaft einheiraten.“

„Ob fein oder nicht, Männer von Verstand werden sie zu schätzen wissen.“

„Für die Mädchen ist also gesorgt. Aber mit Mädchen seid ihr jetzt durch, oder?“

Rebekka strich sich über den Bauch.

„Natürlich, Matz ist sicher, es kommen nur noch Jungs. Ich weiß nicht, diesmal sagt mir mein Gefühl, dass es doch wieder ein Mädchen wird.“

„Aber das lassen wir lieber nicht unseren Dichter hören. Und wo wir schon bei seinen Eigentümlichkeiten sind: Ist wirklich alles eitel Sonnenschein?“

Rebekka sah mich forschend an. Dann zuckte sie mit den Schultern.

„Sie kennen Matz länger als ich. Er hat mir erzählt, dass Sie ihn mehr als einmal aus einer dunklen Zeit herausgeholt haben. Wenn niemand hier ist, wir unter uns sind, hat er noch manchmal schlechte Tage, an denen er daran verzweifelt, dass viele Menschen ihr Heil nicht erkennen. Er sieht den guten Weg und möchte am liebsten jedem Menschen diesen Weg zeigen. Das ist etwas, das ich gut verstehe, aber …“

Ich nickte aufmunternd.

„Nun, letztens war ein Lehrer vom Gymnasium Altona hier. Das Gespräch kam auf die Bibel. Matz ist voller Bibelgeschichten, auch der unbekannteren, da kommt das Thema mit neuen Gästen recht schnell auf. Dieser Lehrer wollte zum Besten geben, wie das Wunder bei der Hochzeit von Kanaan bewerkstelligt worden wäre. Matz mochte davon nichts hören. Und je mehr dieser Lehrer ihn von den natürlichen Ursachen zu überzeugen versuchte, desto wütender wurde Matz. ‚Gottes Sohn brauchte keine Tricks’, schrie er den Lehrer an und ließ ihn sitzen.“

„Na ja, nicht schön, aber so gravierend scheint mir das noch nicht zu sein.“

„Es war nicht das erste Mal. Matz kann sehr bitter werden in religiösen Fragen, wie zum Beispiel bei den Wundern der Bibel. Er ist sonst sehr tolerant. Ob Katholik, ob Protestant, das ist ihm einerlei, solange der Glaube gelebt wird. Ich wünschte, er würde diese Leute einfach reden lassen. Aber da ist es vorbei mit seiner Contenen…“

„Contenance?“

„Ja“, lächelte Rebekka. „Richtig, Contenance. Ein schönes Wort. Ich sollte nicht versuchen, mich mit Federn zu schmücken, die nicht zu mir passen.“

„Es gibt Federn, die dich nicht schmücken? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“

„Schmeichelei ist auch eine Form der Übertreibung, Herr Schneider.“

„Hach. Ertappt. Vielleicht hat die Übertreibung noch andere Ziele als jene, die ich genannt habe. Das bedarf weiterer Erforschung, zu der ich mich nun zurückziehen werde.“

„Sie wollen schon gehen?“

„Es ist Zeit für mich. Unsere Unterhaltung war sehr lehrreich. Ich danke dir für deine offenen Worte. Grüß mir den berühmten Dichter und noch berühmteren Ehemann und Vater, wenn er wieder daheim ist.“

„Natürlich, Herr Schneider. Aber ich habe zu danken, dass Sie ein wenig geblieben sind. Wir hatten bisher kaum Gelegenheit allein zu sprechen. Sie sollen wissen, ich habe großes Vertrauen zu Ihnen. Von allen Freunden, die Matz hat, sind Sie mir der wertvollste, nicht nur, weil Sie uns damals zueinander gebracht haben.“

Ich wusste nicht, was darauf sagen. Ein seltsames Gefühl durchströmte mich. Ich nickte nur, lächelte sie noch mal an und verabschiedete mich. Wie in Trance verließ ich das Haus. Auf dem Weg wandte ich mich noch mal um. Rebekka stand am Fenster. Sie winkte. Ich winkte zurück. Dann ging ich weiter. Wusste nicht, wohin ich ging. War ganz ausgefüllt von diesem warmen, träumerischen Gefühl.

War das – Liebe?

Frau Rebekka

Wo war ich doch vor dreißig Jahr,
Als deine Mutter dich gebar?
      Wär ich doch da gewesen! –
Gelauert hätt ich an der Tür
Auf dein Geschrei, und für und für
      Gebetet und gelesen.

Und kam’s Geschrei – nun marsch hinein
»Du kleines liebes Mägdelein,
      Mein Reisgefährt, willkommen!«
Und hätte dich denn weich und warm
Zum ersten Mal in meinen Arm
      Mit Leib und Seel genommen.

Und hätte dich denn weich und warm
Mit Leib und Seel in meinen Arm
      Zum ersten Mal genommen ...
»Du frommes liebes Mägdelein,
Ich hab dich sonst noch nicht gesehn,
      Willkommen, bis willkommen! –

Wie bist du lieber Reisgefährt
In deinen Windeln mir so wert!
      O werde nicht geringer!
Du Mutter, lehr das Mägdlein wohl!
Und wenn ich wiederkommen soll,
      So pfeif nur auf dem Finger.«


Kommentar des Autors:

Bei der erwähnten Reise schaute Matthias Claudius auch in Jena vorbei und traf dort auf Goethe. Die beiden Dichter sollen sich nicht viel zu sagen gehabt haben. Goethe hielt nicht viel von Matthias Claudius. Die Reise hätte sicher einige interessante Kapitel ergeben, doch mir schien es langsam Zeit, auf den nächsten Höhe- bzw. Tiefpunkt zuzusteuern. Auch hätten neue Gesichter die enge Beziehung zwischen den drei Hauptfiguren Hain, Matthes und Rebekka aufgebrochen.