Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

33 - Ich hatte Matthes in Ruhe ...

 

Ich hatte Matthes in Ruhe an seinem Buch arbeiten lassen. Dann war er mit seiner Töchterschar beschäftigt. Für Rebekka nahte die nächste Geburt. Die verlief glücklich, wie immer ohne mich. Ein größerer Fund Kaffee schien mir dann der rechte Anlass, wieder vorbeizuschauen.

Kaum betrat ich den Vorgarten, begrüßte Rebekka mich bereits an der offenen Haustür. Das Baby trug sie auf dem Arm. Nein, hellseherische Fähigkeiten hätte ihr das sechste Kind nicht beschert. Der Geruch des Kaffees hätte mich verraten.

Wir gingen hinein. Ich stellte den Kaffeesack auf der Bank hinter dem Familientisch ab und fragte nach dem berühmten Dichter.

„Er arbeitet im Garten mit den Kindern.“

„Und wie heißt die Kleine?“

Rebekka lächelte.

„Ich glaube, das will Ihnen Matz selbst sagen.“

„Aha. Da bin ich gespannt. Henriette war ja schon etwas außergewöhnlich. Wie alt ist sie jetzt – zwei? Und auch schon bei der Gartenarbeit?“

Rebekka nickte.

„Habt ihr euch für das halbe Dutzend etwas ganz Besonderes einfallen lassen?“

„Das kann man so sagen.“

Ihr Lächeln wurde breiter. Sie kniff gar die Lippen zusammen, um nicht loszulachen.

„Ich hole ihn mal. Setzen Sie sich doch.“

Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, was gespielt wurde. Hatte ich etwas verpasst? Nach mir konnte er sie schlecht benannt haben.

Von draußen hörte ich Matthes’ Lachen.

Dann polterte er mit seinen Holzpantinen in den hinteren Räumen herum. Rebekka kam zurück mit dem Säugling.

„Er kommt gleich, Herr Schneider. Er will sich nur rasch die Hände waschen, und er hat auch etwas für Sie.“

„Fein.“

Und dann kam Matthes hereingestürmt.

„Freund Schneider, es ist eine wahre Freude dich zu sehen. Und dieser Duft! Betty, mach uns doch eine Tasse fertig. Das ist ja nicht auszuhalten sonst. Hier, mein Freund.“

Er warf ein Buch auf den Tisch und sagte:

„Johannes.“

„Was?“

Verwirrt schaute ich das Buch an. Es war Asmus, vierter Teil.

„Nicht das Buch, das Mädchen.“

„Was? Ach! Es ist ein …“

„Genau! Was soll es denn sonst sein?“, fragte Matthes mit breitem Grinsen.

„Mann! Matthes! Endlich ein Sohn. Meinen Glückwunsch euch beiden. Du hast mich völlig durcheinander gebracht mit deinem Auftritt.“

„Lies das Buch, das wird deine Gedanken ordnen.“

Damals verstand ich nicht, was er meinte. Aber an diesem Tag verstand ich eh wenig. Nach dem Kaffeeklatsch zog ich mich in mein Ruhezimmer zurück. Ich hatte im Plöner Schloss einen Raum für mich abgezweigt.

Einen Herzog gab es in Plön schon lang nicht mehr. Der gesamte Besitz war ans dänische Königshaus gefallen. Ich glaube, kurz nachdem Matthes aus Darmstadt zurückkam, habe ich das Schloss mal wieder besucht. Dachte an die alten Schachduelle zwischen Herzog Johann Adolf und Graf Ruska. Die meisten Räume waren unbenutzt und vergessen. Laut Auskunft von Freund Staub. Ich requirierte einen Raum nach Westen hinaus, indem ich die Türen verrammelte. Nun konnte ich dort Sachen für Matthes zwischenlagern, dem Sonnenuntergang zusehen oder eben lesen.

Natürlich war ich voreingenommen von Nummer vier. Beim ersten Durchblättern entdeckte ich Der Mensch; das Gedicht, zu dem ich den Schluss geliefert hatte. Auch andere schöne Stücke waren im vierten Teil enthalten: das Wandsbecker Lied vom Reifen oder das Abendlied. Und ein paar, die ich hier noch nicht gebracht habe.

Ehrlich gesagt, ich las fast nur die Gedichte. Für längere Texte – was die Gelehrten Prosa nennen – fehlte mir die Geduld. Es sollten noch ein paar Jahre vergehen, bevor ich Ungereimtes las. Und das auch nur, weil ich musste. Wegen Matthes. Hier aber entging mir, was die Kritiker bemängelten: das Abgleiten ins Religiöse, die kaum verhüllte Predigt. Wie ernst es Matthes mit der Religion wurde, merkte ich erst später. Zu spät.

Außerdem entdeckte ich ein Gedicht, von dem ich nichts gewusst hatte. Vor ein paar Jahren hatten wir eine kleine Auseinandersetzung über den Krieg und meine Rolle dabei gehabt. Matthes kam nie wieder auf das Thema zurück. Vielleicht war es ihm ein bisschen peinlich. Vielleicht sollte das Gedicht eine Überraschung für mich sein. Ich habe schlicht vergessen, ihn danach zu fragen. War einfach nur begeistert.

Das Gespräch muss im Sommer 1778 gewesen sein. Denn da fand laut den Geschichtsbüchern der „Kartoffelkrieg“ statt. Ich weiß noch, ich erwischte ihn bei einem frühmorgendlichen Spaziergang. Doch ehe ich ein Wort zur Begrüßung gesagt hatte, schoss Matthes los:

„Na, Freund Hain, freut er sich auf die Ernte?“

„Ist schon Erntezeit?“, fragte ich verwirrt zurück.

„Na, komm, Krieg ist doch dasselbe für dich wie die Ernte für den Bauern.“

„Welcher Krieg?“

„Welcher Krieg! Wie kannst du das nicht wissen? Friedrich ist in Böhmen einmarschiert. Es steht in allen Zeitungen.“

„Ach das.“

„Ja, genau das. Wenn Preußen und Österreich sich streiten, ist der Tod nicht weit, oder?“

„Und du meinst, das macht mir Freude?“

Matthes schwieg. Funkelte mich nur an. Die Nachricht von diesem Krieg hatte ihn mitgenommen. Er hatte ein Faible für Maria Theresia von Österreich. Zu ihrem Tod ein paar Jahre später schrieb er ein rührendes Gedicht. Der Krieg selbst war nicht der Rede wert. Den Namen Kartoffelkrieg erhielt er, weil die Armeen mehr damit beschäftigt waren, ihr Essen zu organisieren als zu kämpfen. Und dann kam schon der Friedensschluss. Trotzdem gab es hier etwas klar zu stellen.

„Du irrst, Matthes.“

„Ach ja?“

„Ja, ganz gewiss irrst du. Es gehört zu meinen bittersten Aufgaben, massenhaft jungen Männern das Leben zu nehmen. Junge Männer, die auszogen, Helden zu werden. Die glaubten, ihr Leben noch vor sich zu haben. Junge Männer, die im Dreck verenden. Die hilflos zusehen müssen, wie ihr Blut im Schlamm versickert. Tapfere Männer, die nach ihrer Mutter schreien. Diese Männer werden grausam ermordet. Denn Mord ist es. Nein, mein Freund, Leben auf diese Art zu vernichten, das ist nicht meins. Ich möchte nicht in der Haut von Königen und Generälen stecken, die das zu verantworten haben. Und um es ganz klar zu sagen: Es sind Menschen, die anderen Menschen das antun. Die für ihre Zwecke töten und töten lassen. Ich plädiere, nicht schuld daran zu sein.“

Matthes schaute mich entgeistert an. Ich war etwas laut geworden. Er wandte sich von mir ab, presste die rechte Hand auf die Augen. Ich wartete, noch etwas entflammt von meiner Rede. Dann drehte er sich wieder um; die Augen feucht.

„Es tut mir sehr leid, Freund Hain. Ich war so empört von der Nachricht, dass wegen ein paar Flecken Land Gottes Gebote missachtet und Menschen geopfert werden.“

Augenblicklich war ich besänftigt.

„Ist schon gut. Ich verstehe dich. Aber ich kann dir versichern: Bis jetzt ist noch nichts passiert. Man bringt sich noch in Stellung. Hoffen wir, dass die Beteiligten rechtzeitig zur Vernunft kommen.“

 

Kriegslied

’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
      Und rede du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
      Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
      Und blutig, bleich und blass,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
      Und vor mir weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
      Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten
      In ihrer Todesnot?

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
      So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
      Wehklagten über mich?

Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
      Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammleten, und mir zu Ehren krähten
      Von einer Leich herab?

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
      Die könnten mich nicht freun!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
      Nicht schuld daran zu sein!


Kommentar des Autors:

Wer sich selbst ein Bild machen möchte von Asmus IV: Zeno.org hat den kompletten Text. Die anderen Bände sind nur einen Klick entfernt.